INVENTIONEN'86 Donnerstag,
27.2.1986
Eröffnung des Festivals: von Huene, Wieland Schmied 19:00 Uhr
TU-Gebäude Ackerstraße
Ausstellung mit Partituren und akustischen Installationen von:
John Driscoll, Jean Dupuy, Stephan von Huene, Gerhard Rühm und Emmett Williams.
Willem de Ridder und Alvin Curran stellen ihr Projekt "Walkman Berlin 1986" vor.
Eröffnung der Audiothek "Komponisten als Hörspielmacher". Die Audiothek entstand in Zusammenarbeit mit dem WDR Köln (Redaktion: Klaus Schöning, WDR3-Hörspielstudio).
Siehe auch Anmerkungen von Klaus Schoening zur 1. Acustica International
Man könnte Virtuosität einen Maßstab nennen für Geschicklichkeit, könnte, in diesem Sinne weiter denkend, von der Relation sprechen zwischen den Grenzen eines Instruments und der Geschicklichkeit, mit der jemand es zu spielen vermag.
Manchmal wird das Wort Virtuosität negativ gebraucht, wird insinuiert, dass eine Person nur ihre Geschicklichkeit zur Schau stellt oder mit der Präzision einer Maschine spielt. Virtuosität in diesem Sinn bedeutet auch, dass Gefühl und Subjektivität weitgehend ausgeschaltet sind. Wenn man nun ein Objekt baut, das Musik automatisch spielt, dann könnte man überlegen, wie eine Maschine etwas spielen könnte, das dennoch Gefühl und Subjektivität einschließt und so umfassender und reicher wäre als die Darbietung eines Virtuosen.
Wenn ich meine Objekte, manchmal werden sie Klangskulpturen genannt, baue, dann arbeite ich auf Muster der Synästhesie hin, die Verbindungswege schaffen sollen zwischen visuellen, akustischen und körperlichen Wahrnehmungen. In der Skulptur "Zauberflöte" habe ich Ideen von zwei Quellen benutzt: erstens von Henry Lance beziehungsweise seinem Buch "Die physikalische Grundlage des Reims" und zweitens von Bandler und Grinder, das heißt ihren Forschungen zum Thema neurolinguistische Programmierung.
In "Die physikalische Grundlage des Reims" beschreibt Henry Lance die Beziehung zwischen Lyrik und Reim in der Terminologie der Musikästhetik. Er beschreibt das akustische Wesen der Vokale als eine Serie von Formanten, die einen Akkord ergeben. Meistens enthalten zwei Formanten in diesem Akkord den Großteil (bis zu 90 Prozent) der akustischen Energie. Diese Formanten sind unabhängig von der Grundstimme des Sprechers und folgen nicht, wie in der musikalischen Akustik, den Obertonmustern. Das heißt, dass jeder Vokal zwei intensiv charakteristische Frequenzzonen hat, die beim Sprechen subjektiv bleiben. Henry Lance glaubt, dass diese charakteristischen Frequenzen der Vokale eine subjektive Melodie im Reim bewirken, so dass zum Beispiel im einfachen Endreim zwei Zeilen im gleichen Vokalklang enden: der erste bestimmt die Tonart, der zweite vervollständigt die Melodie. Ich benutze den Text der Oper "Die Zauberflöte" von Mozart und Schikaneder genau und wörtlich in diesem Sinne.
Meine "Zauberflöte", die aus vier Objekten besteht, verwendet nur die Frequenzen und Transpositionen der charakteristischen Frequenzen der Vokale. Bei der Benutzung des Librettos als mein Arbeitsmaterial habe ich die deutschen Vokale auf sechs gleichmäßig proportionierte phonetische Klänge reduziert. Dieses Schema mit den korrespondierenden charakteristischen Frequenzen habe ich von Manfred Krause, Professor für Akustik an der TU Berlin. Der Text wurde auf die Abfolge der verwendeten Vokale hin analysiert, diese dann schematisiert, und nun werden sie in ihren charakteristischen Frequenzen von den Objekten gespielt. Dieses, wenn Henry Lance recht hat, ist die verborgene subjektive Melodie des Textes. Die Instrumente innerhalb der vier Objekte sind den Instrumenten des Opernorchesters insofern zugeordnet, als die Orgelpfeifen den Hinweis geben auf die Flöte und das Metallophon/Xylophon auf das Glockenspiel - die beiden mit magischen Kräften beseelten Instrumente. Die Metallophonpfeifen beziehen sich außerdem auf die Sänger, sie sind vom Typ, den man im Orgelbau "Vox humana" nennt.
Neurolinguistisches Programmieren ist eine Kombination von Linguistik, Kommunikation und Psychologie. In ihrem Buch "Neurolinguistisches Programmieren" beschreiben Bandler und Grinder, wie Menschen ihre Welt mit den Sinnen formulieren: durch visuelle, akustische, kinästhetische und olfaktorische Sinneswahrnehmung. Sie gehen weiterhin davon aus, dass die Formulierungen eines jeden einzelnen dieser Sinne sehr unterschiedliche Charakteristika haben, fast so, als seien es verschiedene logische Ebenen. Sie haben auch herausgefunden, dass bei Menschen, egal, welcher Aufgabe sie nachgehen, diese Sinneswahrnehmungen in verschiedener Reihenfolge ablaufen und dass man etwas über die subjektive Struktur eines Menschen aussagen kann, wenn man weiß, welche Wahrnehmungsorgane in welcher Reihenfolge benutzt werden. Sie haben schließlich den Zusammenhang gesehen zwischen der Augenbewegung eines Menschen und der spezifischen Sinneskategorie, in der eine Person zu diesem Zeitpunkt die Welt formuliert. Zum Beispiel: Wenn der Blick nach rechts oben gerichtet ist bei einem rechtshändigen Menschen, dann benutzt dieser Mensch eine visuell strukturierte Formulierung. Man muss nur an die Madonnen und Heiligen in der Malerei denken, die eine Vision haben bei nach oben gerichteten Augen und gefalteten Händen. Bandler und Grinder fanden auch heraus, dass die Formulierungen, die eine Person benutzt, sehr direkt auf die Sinnesorgane hinweisen, die zu diesem Zeitpunkt aktiviert sind. Zum Beispiel, wenn jemand antwortet: "Ich sehe, was Du meinst", dann ist Sehen sehr wörtlich benutzt und bedeutet, dass eine Person die andere verstanden hat, indem sie etwas sieht. Oder wenn jemand sagt: "Das klingt gut", meint er zwar meistens "Das ist in Ordnung", aber er benutzt die Logik des Hörens.
Ich habe den Text der "Zauberflöte" auf die Abfolge der Verben, die eine Sinneswahrnehmung bezeichnen, hin untersucht; diese Sequenzen werden von den Lichtern auf den Objekten wiedergegeben, welche die Augen des Betrachters in Positionen lenken, wo der dieser Position und damit also dem Verb entsprechende Sinn aktiviert wird. Wenn Bandler und Grinder recht haben mit ihren Thesen, dann ist der Betrachter der neuen "Zauberflöte" eingeladen, den gleichen subjektiven Schöpfungsprozess zu erleben wie Schikaneder und dann seine eigene "Zauberflöte" zu erfahren.
Eine "Zauberflöte" zu bauen, ist ein bisschen wie der Versuch, auf einer Mundharmonika Oper zu spielen - und dann frage ich mich, was für eine Mundharmonika das wohl sein müsse, um die Oper in ihrer ganzen Fülle zu spielen, oder ihre Subjektivität und Emotionalität zum Klingen zu bringen, jene Teile also, die so hoch eingeschätzt werden in der Rangskala der humanen Werte.
In diesem Festspielsommer trug sich in Salzburg Seltsames zu. Während in der Felsenreitschule unter der Stabführung von James Levine und in der Szene von Jean-Pierre Ponnelle Mozarts Zauberflöte erklang, drängte sich kaum 500 Meter entfernt vor dem Romanischen Keller unter der Hypobank am Residenzplatz eine große Menschenmenge, um den Klängen einer anderen Zauberflöte zu lauschen. Der Andrang war so groß, dass immer nur einzelne Gruppen in die über tausend Jahre alten Gewölbe hinuntersteigen konnten, die, behutsam renoviert, heute zu den schönsten Ausstellungsplätzen zeitgenössischer Kunst in Salzburg gehören.
Während es sich bei der Aufführung in der Felsenreitschule um eine Wiederaufnahme handelte, wohnten wir hier im Romanischen Keller einer Weltpremiere bei: Stephan von Huene, Professor an der Internationalen Sommerakademie auf der Festung Hohensalzburg, stellte seine neuen Klangskulpturen vor - vier Stelen, mit rötlichem Holz verkleidet, mit Orgelpfeifen und metallenem Resonanzkörper versehen. Magische Objekte mit der Aura des Geheimnisses - eine moderne Zauberflöte.
Es ist kein Zufall, wenn Stephan von Huene seine neuen Klangskulpturen Zauberflöte genannt hat. Es ist nicht nur eine Geste der Höflichkeit gegenüber der Mozartstadt und mehr als eine Verbeugung vor dem Genius Loci, Der Titel ist ein Programm. Streng genommen ist er eine Herausforderung Mozarts - im Namen Schikaneders.
Seit Jahren bewegt sich Stephan von Huene im Grenzbereich zwischen der sichtbaren und hörbaren Welt. Er versucht in seiner Arbeit, Sprache in Klänge und Klänge in visuelle Wahrnehmungen zu übersetzen - und, vice versa, reale Objekte und optische Phänomene zum Klingen zu bringen. Um das, was er mit den vier Klangskulpturen seiner Zauberflöte geleistet hat, richtig verstehen zu können, müssen wir von einer Fiktion ausgehen.
Stellen wir uns Folgendes vor: Die Musik zu Mozarts Zauberflöte ist verlorengegangen. Die Partituren sind verbrannt, Schallplatten- und Bandaufnahmen verloren, keine Note ist erhalten geblieben. Erhalten geblieben aber ist wie durch ein Wunder das Textbuch von Emmanuel Schikaneder, und alle stimmen darin überein, dass alles, was vom Geist der Zauberflöte übriggeblieben ist, in diesem Textbuch stecken muss. So macht sich ein Künstler unserer Tage an die Aufgabe, die Oper - oder zunächst einmal ihren ersten Akt - aufgrund des Textbuches neu zu komponieren, als ob er nie einen Ton der Musik Mozarts gehört hätte.
Das etwa ist die Aufgabe, die sich der Künstler gestellt hat. Stephan von Huene wäre aber nicht Stephan von Huene, wenn er bei ihrer Realisierung nicht mit äußerster Systematik zu Werke gehen würde. Er hat damit begonnen, den Text zu analysieren, hat aus ihm die Vokale - und damit auch deren genaue Abfolge, ihre Wiederholungen, die Konstellation der Reime - exzerpiert und für die Vokale die klanglichen Äquivalente, die ihnen kongruenten Tonfolgen und Tonstufen gesucht. Darum hat er, die "Frequenzen und Transpositionen der charakteristischen Frequenzen der Vokale" verwendend, sich daran gemacht, die Zauberflöte neu zu komponieren - oder genauer: er hat Klangskulpturen geschaffen und sie so programmiert, dass sie die immanente Sprachmelodie des Schikanederschen Textes herausarbeiten und aus ihr eine neue, komplexe Komposition formen.
Diese Komposition ist, der Eigenart des Werkes Stephan von Huenes entsprechend, ganz an der Grenzlinie von Musik und bildender Kunst angesiedelt, ist in gleicher Weise für Augen und Ohren bestimmt. Neben ihrer akustischen Komponente - die durch die sich regelmäßig wiederholenden Vokalfolgen der Reime akzentuiert sind - besitzen sie auch eine visuelle: einerseits die äußere Erscheinungsform der Skulpturen und ihrer Klangelemente, andererseits die in bestimmte Richtungen zielenden Lichtsignale, die sie, in anscheinend unregelmäßigen Abständen, aussenden. In Wahrheit sind auch Folge, Richtung und Zusammenspiel der einzelnen Lichtsignale programmiert. Bei seiner Analyse des Schikanederschen Textes hat Stephan von Huene diesen auch auf alle Verben hin untersucht, die eine Sinneswahrnehmung bezeichnen und damit auf eine zusätzliche Aktivierung des Zuhörers _ und Zuschauers! - zielen. Diese Sequenzen hat er nun in ein System von Lichtsignalen übersetzt, das eigenartig zu den Klangfolgen kontrastiert und den Besucher zusätzlich in seinen Bann zieht.
Trotz aller Faszination, die von den visuellen Effekten der Klangskulpturen ausgeht, erscheint mir ihre akustische Dimension als die eigentlich bedeutungsvolle. Die vier Skulpturen gruppieren sich paarweise in je zwei Objekte, die mit Orgelpfeifen beziehungsweise metallophon-/ xylophonartigen Instrumenten ausgestattet sind. Die Orgelpfeifen verweisen auf die Flöte, das Metallophon zugleich auf das Glockenspiel und die Stimmen der Sänger und Sängerinnen. Stephan von Huene hat Metallophonpfeifen von dem Typ gewählt, die im Orgelbau "Vox humana" genannt werden.
Ihr Zusammenklingen führt uns in eine Märchenwelt. Nein, es ist nicht die Märchenwelt von Mozarts Zauberflöte. Diese ist unwiederholbar und lässt sich nicht rekonstruieren. Die Märchenwelt der Klangskulpturen von Stephan von Huene ist die der modernen Technologie, von Elektronik, Computer und Mikrochips. Die Art und Weise aber, in welcher der Künstler ihre Elemente einsetzt und verbindet, zeigt uns, dass in dieser vermeintlich so nüchtern-rationalen Welt moderner Technik mehr an Geheimnissen verborgen ist, als unsere Schulweisheit sich träumen ließ. So wurden die Klangskulpturen Stephan von Huenes zur besonderen Erfahrung dieses Salzburger Festspielsommers.
Aus:"Du". Zürich, Dezember 1985
John Driscoll, Richard Lerman
Roboter-Instrumente und Elektronik
JOHN DRISCOLL:
Sputtering Energy (at 500 times the true size) (1985/86)
"Sputtering Energy" ist eine Arbeit, die während des Aufenthaltes als Gast des Berliner Künstlerprogrammes des DAAD entstand. Es handelt sich um ein Environment, in dem der Zuhörer während der zweistündigen Aufführungsdauer sich frei bewegen und es beliebig verlassen und betreten kann. Die Arbeit besteht aus vier robotisch-rotierenden Lautsprechern, aus gerichteten und normalen Lautsprechern sowie einer Elektronik, die von John Driscoll und Richard Lerman entworfen wurde.
Seit 1976 arbeite ich an Performances und Installationen, die rotierende Lautsprecher-Instrumente verwenden. Diese Instrumente wurden zusammen mit dem Designer Peter Labiak entwickelt, der eng an Entwurf und Bau beteiligt war. Die Aufgabe der rotierenden Lautsprecherinstrumente ist es, ein robotisches Instrument bereitzustellen, das Klänge mittels direkter Fernsteuerung oder auch programmgesteuert im Raum verteilen kann. Dies führt zu einem differenzierten Klangfeld, das die Resonanzen und Reflektionen des Aufführungsortes nutzt. Die Ausgangsklänge werden in Tonhöhe, Lautstärke und Klangfarbe erheblich durch die akustischen Gegebenheiten des Aufführungsortes und die Rotationseigenschaften des Lautsprecher beeinflusst. Ich habe immer eine Art von Klangarchitektur mit sich bewegenden Tönen schaffen wollen.
Das Werk wird von mir und Richard Lerman, einem Komponisten und "Klangbildhauer" aus Boston, aufgeführt. Das klangliche Ausgangsmaterial stammt von beiden Künstlern. Es befindet sich sowohl auf einem Tonband, wird aber auch direkt mit elektronischen Instrumenten erzeugt.
Der Bau der Instrumente und Kontrolleinrichtungen wurde durch Zuwendungen der folgenden Stiftungen ermöglicht: The National Endowment for the Arts, Media Study /Buffalo, The De-Cordova Art Museum, The Institute of Contemporary Art/Boston, The New England Foundation for the Arts und Douglas Dunn & Dancers. Technische Unterstützung gewährten Dankward Schmalbruch von der Inertial Motors Corp. und die Peabody q Wind Engineering Corp.
John Driscoll
Donnerstag, 27.2.1986
22.30 Uhr
Ackerstraße
Diamanda Galas Litanies of Satan (Performance)
Diamanda Galas (Stimme und Elektronik)
Dave Hunt (Technik)
Die letzte Dekade hat viele multi-talentierte Künstler gesehen, die sich besonders dem musikalischen Konzert in innovativer Weise widmen. Das Neue dieser Künstler rührt aus der Vertrautheit sowohl mit außermusikalischen Formen und Gedanken als auch der Musik selber her. "Metamusiker" so verschiedener Art und unterschiedlichen Hintergrundes wie Meredith Monk, Yoko Ono, Brian Eno oder auch Laurie Anderson haben für sich Nischen entdeckt, die ebenso einen breiten wie auch einen sehr speziellen Geschmack befriedigen.
Diamanda Galas, die erst in jüngerer Zeit hervorgetreten ist, hat eine Ausbildung in vielen musikalischen Spielarten erfahren. Darunter finden sich die Oper (dramatisch ebenso wie Belcanto), klassische Theorie und Darstellung sowie vorbarocke Vokaltechniken. Zudem verfügt sie über Erfahrungen mit avantgardistischem Jazz (innerhalb dessen sie zu erstem, wenn auch begrenztem Ruhm gelangte), elektronischer Musik und Performance. In Galas' Kunst lassen sich Einflüsse aus all diesen Bereichen nachweisen, dennoch gerät ihre Kunst nie zum Pasticcio. Sie kombiniert die verschiedenen Aussageformen nicht um der eklektischen Stilisierung, sondern um einer visionären Intensität willen - entsprechend dem Gegenstand, der ihre Aktivität hervorruft.
Galas ist der vielleicht extremste Exponent auf dem Gebiet der Erweiterung der Möglichkeiten und Techniken der menschlichen Stimme. Ihre vokalen Weiterungen fußen nicht nur auf den Pioniertaten solcher Sänger-Performer wie Monk oder LaBarbara, sondern verdanken ebenso viel den rein vokalen Experimenten solcher heute schon legendären Avantgarde-Virtuosen wie Cathy Berberian. Galas erweitert diese Tradition nicht nur durch neue Techniken, sondern auch durch neue Konzepte der Präsentation. Sie fügt ihre vokal-klanglichen Konzepte in übergeordnete Episoden, in Gruppen musikalischer Ereignisse, die in ihrer Wechselbeziehung zueinander ein Zusätzliches an Bedeutung offenbaren. In einigen ihrer Kompositionen geschieht dies innerhalb kleiner "Sätze", in anderen bildet sich ein ununterbrochener Fluss aus, nie aber fügen sie sich der wiederholend-entwickelnden Methode traditioneller thematischer Arbeit. Andererseits haben sie auch nichts mit der repetitiven Methode, wie sie von Steve Reich und Philip Glass populär gemacht wurde, gemein. Galas' Gefühl für chronologische Formulierungen betont, wenn auch durchaus nicht ins Wahllose gehend, eher die Diskontinuität als die Kontinuität. Wie ihre Texte, so zerteilt Galas ihr Klangmaterial in scharfe Splitter von Klangbedeutungen, die sie in beinahe kubistischer Manier so wieder zusammensetzt, dass eine neue aurale Wirklichkeit mit den scharfen Ecken dieser Splitter kratzt. Dieser Prozess geschieht intuitiv, abhängig allein von Galas' Reaktion auf das Wort- und Musikmaterial. So entsteht eine zusammenhängende Struktur, die sich auf den benutzten Text bezieht.
Galas, die in San Diego geboren wurde, studierte musikalische Form sowie Performance an der University of California in La Jolla. Nach dem Abschluss dieser Studien ging sie nach Europa, wo sie durch die Interpretation von Werken anderer Komponisten (Vinko Globokar, Iannis Xenakis, Luciano Berio) weiter auf ihrem Weg zu einem Solo-Musiktheater geriet. 1981 hatte sie ihre erste eigenständige Komposition abgeschlossen, die eine Reihe von Stücken eröffnete, die deutsche Kritiker "Schrei-Oper" genannt haben. Sie bezogen sich dabei auf Vorstellungen des späten expressionistischen Theaters. Eine passendere Näherung wäre vielleicht der Terminus "Monodram", der von Arnold Schönberg eingeführt wurde. Galas dachte an ein Gegenstück zum Schreitheater, wie es von dem Wiener Komponisten im orchesterbegleiteten "Sprechgesang" der "Erwartung" oder der "Glücklichen Hand" geschaffen worden war.
Seitdem hat Galas vier weitere Werke fertiggestellt, die unterschiedliche Texte, unterschiedliche Grade elektronischer Modifikation und eine jeweils wechselnde Betonung rein musikalischen oder eher verbalen Ausdrucks aufweisen. Obwohl oft Sprachfetzen erkennbar sind, ist Sprache in Galas' Vorführungen weniger als ein Vehikel semantischer Information, sondern eher als machtvolle, aber rätselhafte Klang-Gegenwart zu denken. Vokale und elektronische Manipulationen hinterlassen den Text teil weise vernichtet und über große Strecken gestört, so dass jegliche erzählerische Kontinuität zerfällt. Keine Erzählung kommt als einfache Geschichte daher; sie ist vielmehr Gegenstand ihrer Interpretation, man hört und sieht sie als ein Palimpsest, auf dem sich viele Schichten von Stimmungen und Bedeutungen abgelagert haben.
In Galas' frühestem eigenständigen Werk "Wild Women with Steak Knives" entwickelt sich ein bestimmter Charakter aus den unzusammenhängenden, aber musikalischen (d. h. lyrisch-rhythmisch-metrischen) Ausbrüchen einer offensichtlich wahnsinnigen Frau. Es handelt sich hierbei um einen Typus Wahnsinn, mit dem die meisten Bewohner amerikanischer Städte vertraut sind: die Ghetto-Frau, Mitglied der Unterschicht, deren psychische Gesundheit zerstört ist, und die nun schizophren durch die Straßen rast. Diese Charakterisierung geschieht nicht durch Galas' Grummeln, Zischen oder Stottern, durch die murmelnden, sich wiederholenden Muster, die in das geschickt modulierte Klangkontinuum eingewoben werden, sondern durch die wenigen Brocken verständlichen Englischs, die in einem Akzent gesprochen werden, den der Hörer mit dem amerikanischer Ghettobewohner assoziiert. Solche offensichtliche Charakterisierung ist in den späteren Arbeiten Galas' unterdrückt worden, eigenartigerweise eher zum Nutzen als zum Schaden des Textes. Die zwei folgenden Monodramen sind weniger dramatisch als deklamatorisch. Das eine, "The Litanies of Satan”, beinhaltet ("vertont" wäre zu viel gesagt) einen Text von Charles Baudelaire in der Originalsprache. Das andere Stück, "Tragouthia apo to aima exoun fons " (Gesang vom Blut der Ermordeten), ist eine Anrufung und Verdammung, die sich gegen die Offiziere der Militärjunta richtet, die Griechenland von 1967 bis 1974 regierte. Sie ist den Opfern dieser Diktatur gewidmet. Die "demotiki" Gesangstradition, die von Galas' Vorfahren in den Griechischen Bergen geübt wurde, und die spontanen Klagerufe von Frauen (besonders um Männer, die aufgrund der Blutrache zwischen einzelnen Dörfern getötet wurden) beseelen "Tragouthia". Der griechische Text, der von Galas selber stammt, ist mehr durch Raserei und Ritual als durch den Wahnsinn der "Wild Women with Steak Knives" gekennzeichnet. "Litanies of Satan” kehrt zu den Passionen einer imaginären Person, die in ihrem Schicksal gefangen ist, zurück, ein Jedermann, der überheblich gegen das unvermeidliche Leiden und die Auslöschung kämpft, wie er in Baudelaires Fieberträumen beschrieben wird, die teils philosophische Kontemplation und teils halluzinatorische Vision sind.
Wenn die "Litanies of Satan" vom drohenden Unheil handeln, dann beschreibt "Panoptikon" die Gedanken des Individuums in dem Augenblick, da das Unheil eingetroffen ist. "Panoptikon" basiert auf dem Entwurf eines Hochsicherheitsgefängnisses von Jeremy Bentham aus dem Jahre 1843, das die Aufsicht der Bewacher bis zur Allwissenheit steigert. "Panoptikon", geschrieben aus der Sicht der Gefangenen, ist ein Strudel aus Aufgabe, der schrille Schreckensschrei vor dem innerlichen Tod, und zugleich eine Bitte um Befreiung. Obwohl es Jack Abbot gewidmet ist, dessen Buch über das Leben im Gefängnis Galas' Denken tief beeinflusst hat, richtet sich "Panoptikon" mehr auf das Gefühl einer allgemeinen Klaustrophobie - mit Galas' Worten, "eine geistige Situation, die wir in uns tragen” -, auf jene Konditionierungen des Verhaltens, die von Geburt an in uns eingeschlossen werden.
Eine oftmals außergewöhnlich blasphemische wie auch scheinbar morbide Wirkung geht von der künstlerischen Persönlichkeit Galas' - vom Werk selber wie auch von ihrer vampirhaften Erscheinung - aus. Kommentatoren aus dem Pop-Bereich hat ihr ungewöhnliches Auftreten gereizt. Manchmal (und wenn es nur durch den Baudelaire-Titel angeregt war) haben sie darin mehr sehen wollen als die bloße Imitation von Dämonie und Hexenzauber, und Galas hat mit diesen vereinfachenden Interpretationen gespielt. Es wäre falsch, diese generelle Tendenz zu leugnen, eine Tendenz jedoch, die aus dem Einfühlungsvermögen in die Situation derjenigen herrührt, die heroisch und trotzig sich in entsetzlichen Zwangslagen befinden. Diese Menschen sind besiegt, vielleicht sogar ihrer Hoffnung beraubt, dennoch aber halten sie an ihrer Menschlichkeit fest, wenn diese auch oftmals das einzige ist, was ihnen blieb. So nahe an der Zerstörung, sind die Figuren, die Galas beschreibt und porträtiert, doch anrührend und stark in ihrem So-Sein, selbst wenn die Zwangslage, in der sie sich befinden, ihr eigener Geisteszustand ist. Dieses Motiv des Individuums, das "allein gegen alle” (sich selbst eingeschlossen) steht, durchzieht die Literatur, die Schönbergs Monodramen inspirierte und die sich in Galas' Arbeit erneuert.
Äußerlich folgen Galas' Stücke keiner vorgegebenen Form; jedes vertraut auf die ihm innewohnende Kraft, seine besondere Kontinuität zu stiften. Es wird deutlich, dass Galas die Form jedes ihrer Stücke im Prozess der Planung und Komposition gefunden hat. Was nicht so auffällt, ist der beständige subtile Wandel, dem die Form von Aufführung zu Aufführung unterliegt. Galas improvisiert in bestimmten Teilen ihres Werks so lange, bis das Werk als ganzes keine Entwicklung mehr erlaubt. Diese Stücke gehen dann aber nicht, zumindest nicht für eine längere Zeit, in Galas' "Repertoire" ein: sie bringen andere Stücke hervor. Jede Aufführung eines Stückes unterscheidet sich daher von der vorangegangenen solange, bis er Punkt unwiederbringlicher Fixierung erreicht ist. Aber das einzelne Stück braucht noch nicht einmal diesen Punkt zu erreichen, um von Galas' neuen Stücken "aufgefressen" zu werden. "Les Yeux sans Sang", Galas' neueste Arbeit, ist aus "Wild Women with Steak Knives" hervorgegangen. Zur Zeit haben beide Stücke einen gemeinsamen Text, aber der Text wird sich mit dem Stück ändern. Alle Kompositionen der Galas' sind "works in progress".
So sind die Arbeiten an ihre Interpretin gebunden und würden mit ihr verschwinden, wenn sie nicht ihre Stücke formalisieren und ihre Methoden unterrichten würde. Aber selbst dann, wenn sie dies nicht tut, wird Galas einen beachtlichen Einfluss auf die Entwicklung der zeitgebundenen Künste ausüben. Allein ihre Ausweitung der "expanded vocal techniques" auf den Zusammenhang eines Monodrams erweist sich als bedeutsame Innovation. Sie hat Collage-Techniken, Möglichkeiten der Körper-Resonanz, neue Atemtechniken entwickelt, und klangpoetische Texte, die man normalerweise mit den erweiterten Vokaltechniken zusammensieht, zu einem - wie sie es nennt - "elektroakustischen Theater", dessen Kern die Stimme des Schauspielers ist, erweitert.
Aus:"Flash Art", Heft 125