INVENTIONEN'85                                                                                              Mittwoch, 6.2.1985
9. Konzert / 1. Akademie-Konzert                                                                      20:00 Uhr
Akademie der Künste


ISANG YUN: DREI ETÜDEN

Ganz sinnfällig wird der natürlich-organische Gestus der Musik Yuns im Verständnis des einzelnen Tons, in der Melodiebildung und im Formprozess. Charakteristisch für jeden dieser für die Formbildung konstitutiven Aspekte ist ein zwar nicht regelmäßiges, aber doch vegetativ sich weitendes Ein- und Ausatmen. So fasst Yun den Ton nicht als Fixpunkt auf, sondern als flexiblen Schwebezustand. Der Ton wird nicht nur durch einen dynamischen Bewegungsvorgang zwischen piano-forte-piano mit Leben erfüllt, sondern analog zur Zu- oder Abnahme des Tonvolumens kann die Tonhöhe variiert werden, ohne ihre Zugehörigkeit zum ursprünglichen Tonzentrum zu verlieren. Der Ton ist also durch ein variables Verhältnis zwischen dem Punkt und der ihn umgebenden Hülle charakterisiert, die so gedehnt werden kann, dass der Ton zu einem latent polyphonen Gebilde umgedeutet wird.
Den Unterschied von der westeuropäischen Auffassung des Tons hat Yun folgendermaßen umschrieben: "Jeder Ton (in der ostasiatischen Musik) ist vom Ansatz bis zum Verklingen Wandlungen unterworfen, er wird mit Verzierungen, Vorschlägen, Schwebungen, Glissandi und dynamischen Veränderungen ausgestattet, vor allem wird die natürliche Vibration jedes Tones bewusst als Gestaltungsmittel eingesetzt."
Martin Zenck


GERALD HUMEL: JETÉ

"Jeté" bedeutet eine Bereicherung der Literatur für zwei Flöten und ist eines der umfangreichsten und kompliziertesten Werke dieser Art. Das charakteristische Merkmal dieser und auch anderer Kompositionen Humels ist Hochspannung der Gefühle. Die mit großer Leidenschaft vorwärtsstürmende Musik ist von starkem Ausdruckswillen geprägt und stellt für mich eine interessante Weiterentwicklung der expressionistischen Tradition des frühen 20. Jahrhunderts dar. Unter den vielfältigen Möglichkeiten heutigen Komponierens hat Humel, aus dieser Tradition kommend, seine persönliche musikalische Sprache entwickelt
Eberhard Blum


FRIEDHELM DÖHL: FIESTA

Randnotizen zu "Fiesta":
20.1.81: Anfrage von Hans Otte: ein "Werk für 2 Klaviere"? Uraufführung durch das Duo Kristine Scholz / Mats Persson. Freunde. Aus Sympathie: ja.
1.8.81: Noch "für Klavier"? Schon mit 'Cadenza' und 'Odradek' ging ich ja weg von den Tasten, in das Innere des Flügels. Vielleicht erwartet H. Otte so etwas?
Skizzen. Verworfen. Kein 'Odradek' II, keine Neuauflage!
6.8.: Neue Skizzen. Erste Zusammenhänge stellen sich ein. Formvorstellungen, auch Klangfreude, Motorik, Tasten"spiele". Vorher waren meine 'Medea'-Szene, die Cello-Symphonie "Wie im Versuch wieder Sprache zu gewinnen". Das arbeitet weiter, will in den Klaviersatz. Ballett für Klavier. Titel 'Fiesta'?
5.10.: Von außen gesetzte Unterbrechungen. Umzugspläne. - Die klaren weiten Nächte des Hotzenwaldes. - Die Musik beginnt zu "wachsen". In Korrespondenz mit Pindar/Hölderlin, 'Vom Delphin': "Es ist das wellenlose (tiefe) Meer, wo der bewegliche Fisch die Pfeife der Tritonen, das Echo des Wachstums in den weichen Pflanzen des Wassers fühlt". Titel 'Die Pfeife der Tritonen'?
3.1.82: Wieder waren Unterbrechungen. – Nach langer Wanderung, Befreiung: Wiederaufnahme der Niederschrift. Innerer Monolog, in dem Unbekanntes und Bekanntes umeinander kreisen. Geschichte als Teil von Jetzt und Ich. Zitate als Bestandteile der Sprache: Eigenes von Früher, Bartók (die Basler 'Sonata'), Schönberg, auch Wagner und Strawinsky (die gehören zusammen!). Leben "krank zum Tode" - und im Zirkus.
Fiesta: Fest, Polyphonie, Tanz, Tasten"spiele"; Freude, Trauer, Trotz auch; Totentanz.
3.3.82: Beendigung der "Reinschrift", wie immer auch Neuschrift. Titel definitiv: 'Fiesta / Ballett für 2 Klaviere.'
Friedhelm Döhl

 


EARLE BROWN: CORROBOREE

Komponiert 1963/64 im Auftrag von Radio Bremen. Gewidmet Aloys, Alfons und Bernhard Kontarsky. Uraufgeführt im Mai 1964 beim Bremer Festival (eine Fassung für zwei Klaviere erklang drei Jahre später in Zagreb zum ersten mal).
"Der Titel ist ein Wort, das aus dem Sprachschatz der Eingeborenen Australiens stammt. Websters "Dictionary" sagt darüber: "Ein nächtliches Fest mit Gesängen und symbolischen Tänzen, mit dem die Eingeborenen Australiens wichtige Ereignisse feiern: ein lautes Fest, Tumult." Es mag in der Tat ein wenig laut sein, dieses Stück, und obgleich die Brüder Kontarsky keine Australier sind (und in Wirklichkeit weder sangen noch tanzten), ist der Festival-Aspekt jeder ihrer Darbietungen so legendär wie erfreulich, und deshalb erscheint der Titel recht passend.
Ich habe fünf Arten des Klavierklangs als Grundelemente des Aufbaus benützt: einzelne Töne, Akkorde und Cluster, die mittels der Klaviatur hervorgebracht, sowie pizzicato- und gedämpfte Klänge, die durch direkte Berührung der Saiten erzeugt werden. Durch Frequenz, Tempo- und Dichtequalitäten differenziert, werden diese fünf "Farben" so auf die drei Klaviere verteilt, dass im Zusammenhang eine Art klangräumlicher 'Konversation' zustande kommt.
Die Makroform ist festgelegt, in den meisten Binnenabschnitten gibt es jedoch Phasen flexibler Gestaltung und spontanen Austausches. Wie in meinen Werken der offenen Form (die sich bei jeder Aufführung in einer anderen Materialzusammensetzung präsentieren), sind die Möglichkeiten eines intimen, unmittelbaren und spontanen Austausches sowie des Aktions- und 'Stimmungs'-Wechsels für die ganze Darbietung von größter Wichtigkeit."
Earle Brown



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