INVENTIONEN'85                                                                                          Donnerstag, 7.2.1985
10. Konzert                                                                                                     20:00 Uhr
TU-Gebäude Ackerstraße


GERHARD STÄBLER:     TWILIGHTS - Protokolle für Tonband
                                               WINDOWS - Elegien für Flötensolo und Tomtoms

Die Kompositionen "twilights" und "windows" sind im Sommer 1983 entstanden. Es handelt sich um Tagebuchnotizen, realisiert mit Hilfe der "Samsonbox", eines Klangcomputers im Computer-Zentrum der Stanford-University (USA), abgemischt im Elektronischen Studio der Folkwang-Hochschule für Musik, Essen, bzw. komponiert im "alten Stil". Sämtliche musikalischen und außermusikalischen Gedanken beider Stücke reflektieren öffentliche und private Ereignisse, nicht beschränkt auf 1983, sondern sich auseinandersetzend mit der aktuellen politischen Lage, insbesondere der Entwicklung der heutigen Arbeiterbewegung und der Integration von Menschen, die ihren (noch) gängigen Normen weitgehend widersprechen.


ROLAND PFRENGLE: KLAVIERMUSIK

"Klaviermusik" ist eine dreiteilige Komposition über klaviertypische Eigenarten.
1. Das Klavier ist seiner Natur nach ein perkussives Instrument.
2. Melodik und Kantilenen können am Klavier nur simuliert werden; so ist es unmöglich, einen Ton anschwellen zu lassen wie bei Streich- oder Blasinstrumenten.
3. In der Geschichte der Klaviere war dieses Instrument oft Orchesterersatz (Korrepetition, Partiturspiel, orchestrale Wirkungen im Klaviersatz).
Der Klavierklang wird in Tonhöhen und Lautstärken vom Computer registriert und steuert mit diesen Informationen synthetische Klangerzeuger, die hierdurch direkt vom Klavier abhängig sind. Maschine und Klavier werden so zu einem Instrument. Durch diese technische Anordnung ist es möglich, dass kleinste Schwankungen der Klavierdynamik große Auswirkungen auf die synthetischen Klänge haben. Auf diese Weise entsteht stellenweise eine Art Aleatorik in engem Rahmen, die nicht von der bewussten Entscheidung des Interpreten, sondern von seinen motorischen Unregelmäßigkeiten herrührt. - Der Klavierpart ist konventionell durchnotiert.
Roland Pfrengle


DIRK REIT": NESTED LOOPS III (1984)

Der Begriff "Nested Loops" ist dem Computerjargon entliehen und bedeutet soviel wie "ineinander verschachtelte Schleifen". Schleifenartig sich wiederholende und dabei wandelnde Prozesse sind wesentlicher Bestandteil des formalen Aufbaus eines Computerprogramms, sind aber auch bestimmten Formprinzipien in der Musik vergleichbar.
In den Stücken "Nested Loops II" und "Nested Loops III" wird der Computer auf zweierlei Art und Weise eingesetzt. Zum einen als "Werkzeug" im Kompositionsprozess und zum anderen als Klangerzeuger. Klänge erzeugt ein Computer dann, wenn er Zahlen (Daten) schleifenartig wiederholend in einer extrem hohen Geschwindigkeit bearbeitet und diese dann durch Lautsprecher hörbar gemacht werden. Benutzt man einen Computer im Kompositionsprozess, so entsteht eine völlig neue Situation des Komponierens, es kommt zu einem Dialog zwischen Mensch und Maschine, in dessen Verlauf die Komposition Gestalt annimmt. Nicht die Komposition einzelner musikalischer Ereignisse steht im Vordergrund dieses Kompositionsprozesses, sondern die allgemeine Beschreibung musikalischer Strukturen durch das Programm und die Eingabedaten für das Programm. Komponieren heißt in einem solchen computerunterstützten Kompositionsprozess, auf die verschiedenen musikalischen Varianten, die der Computer errechnet, zu reagieren durch Analyse der Varianten, deren Ergebnisse dann wieder die Eingabedaten für eine Variantenberechnung sein können. Damit können die Stücke auch als "akustische Dokumentation" dieses interaktiven Dialogs zwischen Programm und Komponist verstanden werden.
"Nested Loops III" für Klavier, Schlagzeug und Tonbänder, bestehend aus sieben Varianten, entstand aus Daten, die mit dem Programm SC1 (entwickelt von Klaus Damm, Dirk Reith) generiert wurden. Über ein entsprechendes Interface zwischen Computer und Analogstudio wurden mit diesen Daten die Geräte zur Klangsynthese im Studio gesteuert.


JUAN ALLENDE-BLIN: RAPPORT SONORE!RELATO SONORO!KLANGBERICHT

Auftragswerk von Centre Européen pour la Recherche Musicale, Metz, und dem Hörspiel-Studio des WDR-Köln, 1983.
Dieses Hörspiel ist eine abstrahierende musikalische Autobiographie, die ich in fünf Abschnitte gegliedert habe:


Den I. Teil nenne ich "Das Märchen", und er handelt von meiner Kindheit. Ich bin 1928 in einer spanisch-französischen Familie in Santiago de Chile geboren. Meine Eltern waren beide Musiker, aber ihr Horizont wurde keineswegs durch Notenhälse abgegrenzt. Mein Elternhaus war ein Begegnungsort von europäischen Emigranten: es waren spanische Schriftsteller, französische Wissenschaftler und sehr viele deutsche Musiker, darunter Erich Kleiber, Fritz Busch, Rudolf Kolisch. Sie alle waren vom Faschismus und vom Nazismus vertrieben worden. Der spanische Pianist Richard Vines (für ihn hatten Debussy, Ravel, Satie, Albéniz Klavierstücke komponiert) zählt zu meinen frühesten und prägnantesten musikalischen Eindrücken. Dann aber auch "Les Ballets russes", deren Truppe noch viele Werke des Repertoires von Diaghilev tanzte; ihre Bühnenbilder und Kostüme stammten von den legendären Malern Natalija Gontscharova, Léon Bakst, Alexandre Benois, André Derain, Pablo Picasso. Weil meine Eltern mich sehr oft ins Theater mitnahmen, empfand ich, dass diese prächtige Bilderwelt mein Märchenbuch war. Aber dann kam das Tanztheater von Kurt Jooss und brachte unter anderem den "Grünen Tisch", einen Totentanz gegen den Krieg. Das war 1940. Hier entstand für mich ein Einschnitt.

Der II. Teil des Hörspiels heißt "Krieg". Durch das Tanzdrama von Kurt Jooss und durch die Nachrichten, die ich besonders von den deutschen Emigranten bekam, begann ich die Dimension des Krieges zu begreifen. Gleichzeitig hatte ich Gelegenheit, Schallplatten mit Ernst Busch, Lotte Lenya, Blandine Ebinger zu hören. So lernte ich Gedichte von Brecht, Tucholsky, Mehring kennen. Ich ging jetzt zu den Proben der Symphoniekonzerte mit Erich Kleiber, Fritz Busch, Jascha Horenstein, Hans Kindler und entdeckte die Wozzeck-Fragmente von Berg und die Kindertotenlieder von Mahler. Außerdem bekam ich die soeben erschienene Schallplatte des "Pierrot lunaire", von Schönberg selbst dirigiert. Neben diesen Klängen erfuhr ich zum ersten mal über die Existenz der Konzentrationslager. In diesem Abschnitt benutze ich die mittelalterliche Technik des Hoquetus, wobei zitierte Musik durch unregelmäßige Pausen unterbrochen wird.

Den III. Teil meines Hörspiels nenne ich "Ausschau". Ich hatte die Musik von Skrjabin, Schönberg, Webern, Messiaen, Paz aufgenommen, und nun fing ich an, meine eigene musikalische Aussage zu artikulieren. Der Krieg war vorüber. Die Sehnsucht, die Orte, in denen diese Musik entstanden war, kennen zu lernen, wurde immer deutlicher und dringender. So ergab sich der

IV. Abschnitt: "Reise".
1951 kam ich nach Deutschland. Nicht die Ruinen haben mich hier zuerst schockiert, sondern dass ich in diesem Land die deutsche Tradition nicht fand, die ich von Emigranten kennen und lieben gelernt hatte. Meine Reisen wurden gleichzeitig Reisen in die Vergangenheit, um das Fundament meiner Gegenwart zu suchen und zu finden.
Der V. und abschließende Teil, den ich "Situationen" tituliert habe, spiegelt meine letzten 25 Jahre wider. Zu einem Krebskanon, der aus verfremdeten Fragmenten meiner Werke besteht, signalisieren andere Zitate und meine eigenen Kommentare und Erinnerungen die Situationen, aus denen diese Stücke entstanden sind. Man hört die Stimmen von Kurt Schwitters, René Char, Peter Rühmkorf, Gerd Zacher, Blandine Ebinger, Salvador Allende. Sie alle präzisieren die Situationen. Der Zuhörer sollte aber nicht mühsam alle diese Details dechiffrieren wollen, vielmehr sollte er die Sprache dieses Hörspiels als pure aber hintergründige Musik enträtseln.
Juan Allende-Blin


HELMUT·W. ERDMAMN: TRANSFIGURATION III

In meinen Kompositionen bin ich bestrebt, zu einer Synthese heute möglicher Stilmittel zu gelangen. Hierzu gehört, neben Einbeziehung improvisatorischer Gestaltungsmöglichkeiten bei einigen Werken, von Beginn meiner kompositorischen Arbeit an die Auseinandersetzung mit elektronischer und live-elektronischer Klangverarbeitung und den differenzierten Fähigkeiten der Computermusik. Von großer Bedeutung sind für mich dabei die verschiedenen Mischformen - vom "reinen" Instrumentalton und seinen mannigfaltigen Farbgebungen bis zum völlig elektronisch-veränderten Klang mit allen Zwischenstufen der Verfremdung, Klangerweiterung, dem Feedback instrumentaler und apparativer Technik im kreativen Entfaltungsprozess. Parallel dazu hat mich die Einbeziehung melodischer und rhythmischer Elemente interessiert, um wieder zu "lustvollem" Musizieren zu gelangen.
Helmut W. Erdmann



zurück zur Programmübersicht Inventionen 1985