INVENTIONEN'82 Freitag,
2.4.1982
4. Konzert 20
Uhr
Akademie der Künste
Der Mythos von Daidalos ist die Geschichte eines Erfinders, der - im Gegensatz zu anderen mythologischen Wesen - kein Gott ist (auch wenn er manchmal mit Hephaistos, dem Gott der Schmiede, verwechselt wird). Er ist aber auch kein Held, der mit seinen Körperkräften zu siegen vermag (wie Herakles oder Theseus), kein Mensch mit moralischem Dünkel (wie Ödipus) und kein Frauenheld (wie Adonis). Daidalos ist ein erfindungsreicher Mensch, dem seine eigenen Erfindungen zum Verhängnis werden und der mit ihrer Hilfe und vor ihnen fliehen muss.
Eifersüchtig auf die Erfindungen seines Neffen Talos, erschlägt er ihn und muss daraufhin aus Athen nach Kreta fliehen. Die Mondgöttin und Königin Pasiphae zwingt ihn hier, für sie ein Kuhgestell zu bauen, um ihr - in ihrer Begierde, den weißen, göttlichen Stier zu empfangen - ein Stelldichein zu ermöglichen. Aus dieser Vereinigung entsteht der Minotauros (Minos = Sonnenkönig / Tauros = Stier). Daidalos, der am königlichen Hof auch als Puppenmacher und Unterhalter der königlichen Familie beschäftigt und als erfinderischer Geist bekannt war, kam dadurch in Schwierigkeiten. Der König verlangte von ihm, eine Lösung zu finden, wie man diese Schande, den stierköpfigen Menschen, verbergen und dabei unbeschädigt unschädlich machen könnte. Daidalos baut das Labyrinth, dessen Gefangener er gleichzeitig wird. Um nun aus diesem Gefängnis seines eigenen Werkes zu entkommen, erfindet und baut er die Flügel. Mit ihrer Hilfe gelingt ihm und seinem Sohn Ikaros die Flucht. Ikaros stürzt aber ins Meer (die Absturzsteile heißt noch heute Ikaria) und Daidalos kommt allein in Sizilien an, wo er wieder beginnt, am Hof des dortigen Königs, Puppen zu machen und die königliche Familie zu unterhalten. Minos verfolgt ihn bis hierher und findet ihn durch eine List. Daidalos tötet ihn und muss erneut fliehen. Seine Spuren verflüchtigen sich in Sardinien, wo noch heute verschiedene Bauten, die sogenannten Daidalien, nach ihm benannt sind.
Zur Entstehung meiner Oper
beschäftigte ich mich geraume Zeit mit diesem Mythos. Als ich schließlich im Oktober 1976 in Altaussee die Drachenflieger
sah, die vom Loserfelsen ins Tal segelten (einer von ihnen kam damals durch den Ehrgeiz seines Vaters ums Leben und stürzte
in den See!), regte dies meine Phantasie so sehr an, dass ich mich nun an den Stoff heranwagte und im Laufe des
darauffolgenden Jahres das Libretto schrieb. Die Komposition und die Arbeit an der grafischen Partitur beschäftigte mich bis
Anfang 1979. Inzwischen hatte das Unterrichtsministerium die Fertigstellung des Werkes in Auftrag gegeben.
Umformungen des Mythos
stellten sich für mich an mehreren Stellen als notwendig heraus, um das mythische Material unserer geistigen und
geschichtlichen Situation anzupassen. Dabei versuchte ich, Ungeheuerlichkeiten durch Zitate aus späterer Zeit zu
dokumentieren (Zitate aus ,Gullivers Reise bei den Riesen', aus der ,Liebeskunst' des Ovid, aus ,Wallensteins Lager' von
Schiller und aus den Aufzeichnungen des Lagerkommandanten von Auschwitz, Höß). So lasse ich nicht Theseus den
Minotauros aufsuchen sondern Ariadne, die aus Neugierde, Wissbegierde mit ihrem Bruder (eigentlich Halbbruder) ins
Gespräch kommt.
Dem ,sogenannten Bösen' gegenüber verhalten wir uns heute eben auf diese Weise. Wir lassen es sich artikulieren, wir fordern
es sogar dazu auf.
(Höß: "Nie hätte ich mich zu einer Selbstentäußerung, zu einer Entblößung meines geheimsten Ichs
herbeigelassen - wenn man mir hier nicht mit einer Menschlichkeit, mit einem Verstehen entgegengekommen
wäre, das mich entwaffnet, das ich nie und nimmer erwarten durfte. Diesem menschlichen Verstehen bin ich
schuldig, dass ich alles dazu beizutragen habe, um ungeklärte Zusammenhänge aufzuhellen ... ").
So war der ganze Nürnberger Prozess ein Ins-Gespräch-Kommen mit dem stierköpfigen Menschen mitteleuropäischer
Prägung, letzten Endes einem Halbbruder der Zivilisation. (Ionesco lässt in seinen ,Nashörnern' ein solches Gespräch nicht
zustande kommen, weil ihre Welt wahrscheinlich keine Gespräche zulässt und keinen damit zusammenhängenden Lernprozess,
- auf den es uns aber sehr ankommt).
Die Gestalten des Mythos,
ob Daidalos, Hephaistos, Talos, Ikaros, Tauros oder Minos, ob Pasiphae oder Ariadne, tragen alle nur verschiedene Namen für
dasselbe Sonnen- oder Mondwesen, das sich gleichzeitig tabuisiert, mordet, heiligspricht und zertritt, die ,Blume Zeus' in den
Mund nimmt, um aufzuerstehen und ,in den Mund des Lehrenden spuckt, um alles Gelernte zu verlernen', alles Mythen vom
Menschen, der sich wirft, um sich wieder zu gewinnen und sich im Abenteuer der Vater- Sohn-Beziehung regeneriert.
Die ,Kleine Fassung',
deren Uraufführung durch das K & K EXPERIMENTALSTUDIO am 23. Juni 1980 im Klagenfurter Künstlerhaus stattfand,
fasst manche Szenen der Oper zusammen, andere wurden gekürzt oder überhaupt weggelassen (wie die Szenen mit Talos oder
mit Pasiphae und deren Verwandlung). Der zweite Teil der Oper wird hier auf das ,Oratorium' und eine Zusammenfassung der
Schlussszenen durch Überlagerung zusammengezogen.
Aus der musikalischen Schichtung des Werkes, das ja auch für großes Instrumentarium angelegt ist, wurden nur approximativ
die aufgezeichneten Klangcharaktere entsprechend den elektroakustischen Möglichkeiten des K & K
EXPERIMENTALSTUDIOS realisiert.
Anestis Logothetis, geb. 1921 in Pyrgos, Ost-Romylien am Schwarzen Meer, als Sohn griechischer Eltern, die
1934 nach Thessaloniki übersiedelten, wo er 1941 am Griechisch-humanistischen Gymnasium die Matura ablegte. 1942 kam
er nach Wien, zunächst zum Studium an der Technischen Hochschule (Bauwesen), wandte sich aber bald gänzlich der Musik
zu (Klavier, Dirigieren, Komposition bei Uhl und Ratz) und schloss seine Studien an der Musikhochschule 1951 mit
Auszeichnung ab. 1952 wird er Österreichischer Staatsbürger.
Als Stipendiat arbeitete Logothetis zwei Jahre (1956 und 1958) in Rom, 1957 am Elektronischen Studio in Köln mit Gottfried
Michael König. Um 1958 entwickelte er ein neues System grafischer Musiknotation, das in wenigen Jahren weltbekannt
wurde und heute aus keiner Darstellung der Entwicklung neuer Musiksprachen wegzudenken ist. 1959 realisierte er am
Elektronischen Studio der Wiener Musikhochschule die erste autonome Tonbandkomposition in Österreich ("Fantasmata").
Bald wandte er sich einer neuen Ausdrucksform zu, dem Musikalischen Hörspiel, als dessen Anreger und Meister er besonders
im deutschen Sprachraum heute anerkannt und geschätzt ist.
K & K EXPERIMENTALSTUDIO
präsentiert
Daidalos | Anestis Logothetis |
|
Ikaros, Ariadne |
Gunda König |
|
Ansager |
Dieter Kaufmann |
|
Minotauros |
Christoph Largier |
|
Stimme des Minotauros |
Arno Patscheider |
|
Regie und Inszenierung |
Dieter Kaufmann |
|
Bühnenbild und Kostüme |
Stathis Logothetis |
|
Filme |
Kurt Matt |
|
Dias |
Urs Kahler |
|
Tonbänder |
Dieter Kaufmann |
|
Elektronik |
Walter Stangl |
|
Klang- und Lichtregie |
Dieter Kaufmann |
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Chorstimmen |
Ein Ensemble des Madrigalchores Klagenfurt |
|
Choreinstudierung |
Nikolaus Fheodoroff |
1 | Prolog (Sz. 1) |
Begrüßung des Publikums und Verlesen von Titelvarianten |
Ansager mit Lautsprecher, Tonbänder |
2 |
Labor (Sz. 5) |
Daidalos der Erfinder, Ikaros der Träumer, Fluchtvorbereitung |
Daidalos, Ikaros, Tonbänder, Objekte, Projektionen |
3 |
Apologie (Sz. 7) |
Daidalos vor Gericht, Verteidigungsrede mit Simultanübersetzung |
Daidalos, Tonbänder |
4 |
Labyrinth (Sz. 8, 9) |
Die Neugier der Ariadne, Konfrontation der Geschwister, Einschläferung des Minotauros |
Daidalos, Ariadne, Minotauros, Tonbänder, Projektionen, ,camera acustica' |
5 |
Flucht |
Der Fliegenflug, Entschluss zur Flucht, Flug und Sturz |
Ikaros, Daidalos, Projektionen, Tonbänder |
6 |
Oratorium (Sz. 12) |
Vom Höhenflug der Kunst und von der Bühne des Lebens |
Daidalos, Ikaros, Tonbänder |
7 |
Ausblick (Sz. 13, 14) |
Spaltung Vater-Sohn, Daidalos versinkt im Alltag, Ikaros singt vom Ideal der Liebe, Count down zur Gegenwart |
Ikaros, Daidalos, Objekte, Tonbänder, Video |
Dauer etwa 70 Minuten
DAIDALIA von Anestis Logothetis ist eine Auftragskomposition des Bundesministeriums für Unterricht und Kunst.
Das K & K EXPERIMENTALSTUDIO, das von Kärnten aus seit 1975 Musiktheatertourneen durch die ganze Welt unternimmt, wird diesmal mit allen Mitgliedern auf der Bühne stehen. Anestis Logothetis selbst wird die Rolle des Daidalos verkörpern, Gunda König - in einer Doppelrolle - fliegt als dessen Sohn Ikaros durch den akustischen Himmel und trifft als neugierige Ariadne auf ihren Halbbruder Minotauros. Dieter Kaufmann eröffnet als Ansager das Spektakel.
Bühnenbild und Kostüme stammen von dem ebenso berühmten Bruder des Komponisten, dem Maler Stathis Logothetis aus Athen, elektronische Licht-Klang-Synthesizer wurden von Walter Stangl speziell für die Aufführung konstruiert, ein Zuspielfilm von Kurt Matt und Dia-Projektionen nach Partiturblättern des Autors, realisiert von Urs Kahler, bereichern die Szene. Für die Inszenierung zeichnet Dieter Kaufmann - diesmal als Interpret eines Musikerkollegen -: verantwortlich.
DAIDALIA ist eine Wort-Oper voll von Klängen. Die Geschichte spielt nicht nur in Kreta vor etwa, 4000 Jahren, sondern täglich - auch unter uns. Die Gewissenskonflikte des positivistischen Erfinder-Genies Daidalos reichen z. B. in der Diskussion um die Nutzung der Atomenergie bis in unsere Zeit, das "Minotaurische" fand und findet in Vernichtungslagern potenzierte Wiederbelebung. Ariadne entkommt ihm durch die einschläfernde Wirkung von Musik, eine Vorwegnahme eines der Anliegen funktioneller Musik heute?
Alles das wird in multimedialer Aufbereitung der grafischen Partitur von Anestis Logothetis mit dem universell wandelbaren Bühnenbild des Stathis Logothetis, mit den vom K & K EXPERIMENTALSTUDIO realisierten Tonbändern, mit Filmen, Dias, Live-überlagerungen in einer etwa 70minütigen Auswahl aus dem verschiedenartig interpretierbaren Musiktheaterwerk in 7 Bildern erzählt.
Uraufführung - Teil 5 (,Flucht'), 16. September 1979, Athen, Theater Herodes Atticus, IGNM-Weltmusikfestmit der Schauspielerin Gunda König und dem Komponisten Dieter Kaufmann ist ein Musiktheater-Ensemble, das Neue Musik (Elektroakustische Musik, Grafische Musik, Musikalische Hörspiele ... ) in Theaterund Media-Mischformen mit Hilfe der technischen Möglichkeiten unserer Zeit zur Aufführung bringt. Komponisten wie Roman Haubenstock- Ramati, Anestis Logothetis, Bruno Liberda, Wilhelm Zobl, Tamas Ungvary, Elzbieta Sikora und Dieter Kaufmann haben Werke für das Ensemble geschrieben, deren Realisierung in Zusammenarbeit mit Künstlern verschiedener Kunstgebiete erfolgte: Die Filmemacher Krzysztof Rogulski, Tamas Ujlaki und Kurt Matt, der Cartoonist Kurt Piber, die Fotografen Urs Kahler und Michael Leischner, bildende Künstler wie Stathis Logothetis, Johannes und Charlotte Seid I und der Theatermann Erwin Piplits haben in verschiedenen Produktionen mitgearbeitet, Texte von Ingeborg Bachmann, Ernst Jandl und T. S. Eliot sind Basis multimedialer Aufführungen geworden und das inzwischen berühmt gewordene "Moviophon" des Tontechnikers und Mitbegründers Walter Stangl hat in einer Reihe von Produktionen einen wesentlichen Baustein zur Realisierung beigetragen. Immer stärker treten auch andere Interpreten auf: Der Geiger Peter Guth in den Beethoven-Szenen "Music minus one" von Kaufmann, Anestis Logothetis als Darsteller des "Daidalos" in seiner eigenen Oper, die Tänzerinnen Olga Ure und Alexandra Buresch in den "Songs for Mizzi Traktor" von Liberda oder Elfriede Hablé mit ihrer "singenden Säge" in Kaufmanns "Heiligenlegende". Die Produktionen entstehen größtenteils als team-workin- progress und verändern im Laufe der Aufführungen noch häufig ihre Form. Seit seiner Gründung im Jahr 1975 hat das Ensemble Aufführungen in fast allen europäischen Ländern und in Nord-Amerika durchgeführt. Es ist ebenso bei renommierten Festivals wie im Bereich der Animationsarbeit (in Schulen, Workshops etc.) vertreten. Besondere Ereignisse waren: Aufführungen bei der Biennale in Zagreb 75, bei den Multi-Media- Festivals in Stockholm 75 und Bourges 75 und 81, beim Steirischen Herbst 76/79 und 80, die skandalisierte Uraufführung von ,Music minus one' zum Beethovenjahr im Wiener Konzerthaus, eine Tournee im Auftrag der Österreichischen Hochschülerschaft durch sämtliche Österr. Universitäten 1978, die Finnlandtournee 78, die Auftritte im La Mama Theater New York, in Chicago, Toronto und Halifax zusammen mit dem Theater PupoDrom 1979, die Uraufführung von Daidalia-Szenen im Theater Herodes Atticus beim Weltmusikfest in Athen 1979, eine Tournee in die Türkei und eine nach Ungarn 1980 und eine Schwedentournee bis in die Nähe des Polarkreises mit 32 Aktivitäten, vor allem in Schulen, im Frühjahr 1981 .
Gunda König ist als Schauspielerin für Bühne, Film, Funk und Fernsehen tätig (Engagements und Gastspiele am Stadttheater Klagenfurt, bei den Komödienspielen Porcia, am Wien er Volkstheater, beim Ensembletheater, bei den "Komödianten", am "Theater an der Wien" ... )
Dieter Kaufmann ist nach Kompositionsstudien in Wien (bei Schiske und Einem) und Paris (bei Messiaen, Leibowitz und Pierre Schaeffer) seit 1970 Lehrer für Elektroakustische Musik an der Wiener Musikhochschule und auf den verschiedensten Musikgebieten tätig: Als Komponist von Instrumental-, Vokal- und Musiktheater-Werken, als Animator und Organisator, als Regisseur und Rundfunk-Redakteur. Mehrere Arbeiten für das Wiener Burgtheater (Bühnenmusik).
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