Es versteht sich nicht von selbst, dass Streichquartette von Webern in ein Programm aufgenommen werden, das der Hauptsache nach und erklärtermaßen die Musik seit 1945 präsentieren will. Das jüngere der beiden Werke, op. 28, wurde zwischen 1936 und 1938 komponiert, die Fünf Sätze op. 5 stammen aus dem Sommer 1909, sind also jetzt fast 80 Jahre alt. Webern ist zwar nicht der einzige ältere Komponist, der hier vertreten ist, aber der einzige aus der Wiener Schule. Dies scheint eine Einschätzung Schönbergs, Bergs und Weberns auf "avantgardistisches" Komponieren anzudeuten, die aus den Darmstädter Jahren wohlbekannt ist; heute könnte sie verwundern.
Op. 5 und op. 28, Weberns erstes und letztes Quartett mit Opuszahl also: ein Bogen vorn Anfang zum Ende seiner offiziellen kompositorischen Produktion ist geschlossen und praktisch die Hälfte seiner Kammermusik für Streicher vertreten. Es fehlen nur das Streichtrio op. 20 (1927) und die Bagatellen op. 9. Die Fünf Sätze entstanden 1909, die Bagatellen 1911/13; beide Werke stammen aus der Zeit der kurzen, nicht mehr tonalen Stücke - und wenn es um einen Überblick über Weberns Werk ginge, könnte man sich vielleicht mit einem der beiden Quartette begnügen. Aber die beiden Opera haben noch mehr gemeinsam als die gleiche Entstehungszeit. Webern schrieb einmal, die meisten seiner Werke seit der Passacaglia op. 1 seien auf den Tod seiner Mutter bezogen (sie starb im Sommer 1906); für die beiden Quartette gilt das jedenfalls. Nur ist unsere bisherige Kenntnis der Sachlage so unvollkommen, dass mit dieser Aussage kaum etwas anzufangen ist. Verbirgt sich dahinter ein greifbarer "Inhalt"? Ist er musikalisch greifbar? Wie unterscheiden sich musikalisch die auf den "Tod der Mutter" bezogenen Werke - vorausgesetzt, wir wüssten, welche es sind - von den übrigen? Oder, mit anderen Worten: Was verbindet beispielsweise die Passacaglia op. 1 und die Fünf Stücke für Streichquartett?
Der vollständige und ausführliche Text von Regina Busch kann hier nicht veröffentlicht werden!
Der Livre pour quatuor, das Streichquartett von Pierre Boulez, gehört in die Reihe der ersten bedeutenden vom Komponisten auch heute anerkannten Werke, die er, noch keine fünfundzwanzig Jahre alt, Mitte bis Ende der vierziger Jahre komponierte, und die, bis heute von der Aura des Frühvollendeten umwoben, seinen Ruhm begründet haben: die Sonatine für Flöte und Klavier, die Erste Sonate für Klavier und die erste Fassung der Kantate Le visage nuptial aus dem Jahre 1946, die Zweite Sonate für Klavier und deren vokales Seitenstück, die Kantate Le soleil des eaux, beide 1948 fertiggestellt. Der Livre entstand in der Zeit vom 25. März 1948 - Beginn der _Arbeit am ersten Satz - bis zum 27. Juli 1949 - Abschlussdatum des sechsten Satzes und damit der gesamten Kompositen [1] . Die Arbeit an der überaus komplizierten Partitur zog sich über ein Jahr hin, eine recht lange Zeit, bedenkt man, dass etwa die erste Fassung der Kantate Le visage nuptial noch in der Zeitspanne von etwas weniger als einem Monat fertiggestellt werden konnte. Das Werk steht in der Reihe der Kompositionen Boulez' zwischen der mächtigen Zweiten Sonate und der Kammersymphonie Polyphonie X für 18 Instrumente, deren früheste Konzeption auf das Jahr 1950 zurückgeht [2]. Tatsächlich greift der ausgedehnte zweite Satz, wie der Komponist einmal selbst bemerkte [3], auf die Durchführungspartien des vierten Satzes der Klaviersonate, die entwickeltesten Teile des Werkes, zurück, jedoch in erweiterter und ausgearbeiteter Form; der vierte und sechste Satz, die kompliziertesten des Quartetts, weisen indes voraus auf kompositionstechnische Verfahren, die in der Kammersymphonie. zur Anwendung gelangen [4].
Der Livre nimmt, obwohl in keiner Weise Neben- oder Übergangswerk, durch seine verwickelte Aufführungsgeschichte eine gewisse Sonderstellung ein.[1] Diee erste Niederschrift der Komposition ist datiert und befindet sich im Besitz der Paul Sacher Stiftung, Basel.
[2] Die ersten Entwürfe zu diesem Stück, ebenfalls im Besitz der Paul Sacher Stiftung, sind teilweise datiert.
[3] Antoine Goléa Rencontres avec Pierre Boulez, Paris und Genf 2 1982. s. 83
[4] Der Verfasser {Th. Bösche} arbeitet derzeit an einer Dissertation, in der der Zusammenhang zwischen der Zweiten Sonate, dem Livre und Polyphonie X auf Grund genauer Analysen dieser Werke Gegenstand der Darstellung ist.
Der vollständige und ausführliche Text von Thomas Bösche kann hier nicht veröffentlicht werden!
Der vollständige und ausführliche Text von Andreas Taub kann hier nicht veröffentlicht werden!
I Wie der Weg einer einzelnen Stimme durch die Zeit könnte dies sich ewig fortspinnen, sich beständig wiedererfinden, sich zuhören.
II Invention: das Wort ist im Sinne von Konstruktion im Imaginären gebraucht. Die Organisation auf dem Notenblatt ist. spontan, nicht geplant. Die Stücke sind kurz und folgen - mit einigen Ausnahmen - ohne Unterbrechung aufeinander. Die akademische Definition des Wortes - eine konzentrierte, mit großer Rigidität konstruierte Stilstudie - entzieht sich diesem Werk ganz und gar.
III Die Schreibweise eines solchen Werkes hätte vor allem asketisch zu sein, diszipliniert, und in diesem Sinne ein Katalog, das Kalkül bestimmter Ideen. In diesem Falle wäre die Arbeit nichts weiter gewesen als ein selektives Zusammenbringen abstrakter Ideen mit ihrer Organisation auf dem Papier. All diese Ideen bringen andere Ideen hervor. Das Schreiben jedoch befindet sich in beständiger Evolution und stößt dabei auf das eigentliche Wesen der Invention: Verweigerung von Entwicklung, wenn sie von der Idee ablenkt. So gehen Idee und Form eine vollständige Symbiose ein.
IV Dennoch haben gerade die Kargheit, der Rigorismus und die allzu symmetrische Wahl der Besetzung bei den klassischen Vorbilder des Streichquartettes zu einem Verhalten geführt, das gegen diese Zwänge angeht.
V Die Anordnung der Inventionen geschah im Nachhinein. Die. Form wurde zufällig gefunden, als eine Parallele der Orte, die Ich m Berlin entdeckt und aufgesucht habe. Die Destrukturierung dieser Stadt hat die Sprengung der Form bewerkstelligt, die dunklen Berliner Fenster die Verschiedenheit der Sätze.
VI All dies dient als Anhaltspunkt. Das Gedächtnis ist keine Last, es ist der Motor, der die Sprache regeneriert. Die Musik bewegt sich durch andere Musiken. Man findet da ein "Lied" (Invention VII), und eine "Serenade" (Invention X). Das Eigentliche aber findet sich nicht dort. Wer auch würde hier einen Akkord aus dem dritten Akt von "La Traviata" (der nichtsdestoweniger wortwörtlich zitiert wird), oder eine fragmentierte Folge aus Dallapiccolas "Cinque Canti" wiedererkennen?
VII "Die vergessenen Kräfte enthüllen ihre Gegenwärtigkeit und treten in Aktion; die schöne Wasseroberfläche, so glatt, dass sie uns die Illusion von Festigkeit gibt, wird ihrer Bergbach-Natur, die bis jetzt immer im Zaum gehalten wurde, zurückgegeben."
(René Huygue "Formes et forces")
VIII Alles in diesem Werk opponiert der traditionellen Vorstellung vom Streichquartett: Geometrie, in der die Ökonomie der Mittel nebeneinander oder übereinander steht; die Beschränkung auf ein Minimum von Satzcharakteren (Materialien). Keine Wiederholungen, keine Symmetrie. Alle Elemente sind hier für ein möglichst freies, möglichst irreguläres Werk gegeneinandergesetzt; nicht interessiert, weit weg von aller Mode, von Traditionen, von allen autoritativen Vorbildern und historischen Bedingtheiten.
IX Ohne arrogantes Gestikulieren - wie dies bei allzu vielen Kunstwerken unserer Epoche der Fall ist - akzeptiert sich diese Musik so, wie sie ist und orientiert sich an den ihr vertrauten, wenn auch nicht unbedingt populären - Horizonten. Jenseits aller Theorie gleicht dieses Streichquartett einem Gedicht, das eine Geschichte in beständiger Bewegung und Entwicklung erzählt: meine Geschichte.
X Entfernt davon, sich mit dem, was die Vernunft gebietet, zufriedenzugeben, oder sich davon zu lösen, findet sich mein Klassizismus in der Undiszipliniertheit, im Unvorhergesehenen, im Zufall. Die Beweglichkeit dieses Denkens verhält sich wie ein Tropismus. Ist dieses Stück nicht der ideale Ort für das Theater theoretischer oder instrumentaler Erkundungen … ? Aber Werke sind nicht geschrieben, um vom Komponisten analysiert zu werden, es sei denn, er muss als Theoretiker seinen regelgerechten Akademismus verteidigen. In einem Kunstwerk findet jeder andere Bedeutungen. Das ist eine Gegebenheit, die das Individuum in einer unruhigen Zeit, die umso rationaler zu sein versucht, schwer erträgt. Vielleicht handelt es sich dabei um ein instinktives und gleichwohl komplexes Verhalten, dem man sich in unserem System vielfältiger kultureller "Verpflichtungen" kaum entziehen kann.
XI Das Quartett ist innerhalb einiger Wochen des Herbstes 1988 in Berlin, Barcelona, Paris und Cheverny entstanden. Es ist Marly und Walter Biemel zugeeignet.
Philippe Fenelon