Musik für ca. 16 Saiten

1. Konzert
Kreuzberger Streichquartett


ANTON WEBERN: Streichquartett op. 28

Aus Weberns Skizzenbuch kennen wir den ersten Kompositionsplan, den er am 17. Juni 1936 notierte: Es sollte sich um drei Sätze handeln; der erste langsam, ein Sonatensatz, der zweite ein Rondo, Scherzando, der dritte eine Fuge. Weitere Sätze waren nicht vorgesehen. Wann der Plan zum ersten Mal geändert wurde, wissen wir noch nicht, jedenfalls wurden der zweite und dritte Satz vertauscht und die Fuge sollte nun als Einleitung zum letzten fungieren. Auch von diesem Plan ist kaum etwas geblieben.

der gesamte ausführliche Texte von Regina Busch kann hier nicht veröffentlicht werden!


MANUEL ENRIQUEZ: Cuarteto IV (1983)

In seinem Cuarteto IV - als Auftragswerk für die Berliner Festwochen 1983 komponiert - kehrt Manuel Enriquez zu einem betont traditionellen Klangkörper zurück. Das dreisätzige Streichquartett vereinigt in ausgewogener Weise traditionell fixierte Elemente und aleatorische Abschnitte, die dem Werk musikantischen Witz und spielerische Vitalität verleihen .

Das Werk setzt mit einem klangvollen Pizzicato-Akkord aller vier Streicher ein. Über einem langen Triller der Viola setzen die Stimmen - angeführt vom Violoncell - nacheinander in flirrenden sul ponticello- Figuren ein. Kaum angerissen, löst sich die musikalische Linie wieder auf und mündet in einem subtilen Klangfarbenwerk Die verschiedenen Abschnitte des Satzes, in denen die Instrumente in verschiedenen Konstellationen miteinander kombiniert werden, werden jeweils von einer solistisch überleitenden Stimme verbunden, die den Satz auch abschließt.

Der zweite Satz baut auf elementarem Klangmaterial auf: Melodie und Harmonik werden zu aphoristischen Kommentaren, die Struktur des Satzes ergibt sich gänzlich aus Rhythmus und Klangfarbe. Im abschließenden dritten Satz wird das Quartett zunächst "aufgelöst": die Instrumente spiegeln sich in unabhängigen solistischen Figuren. Dann werden die getrennten Stimmen in den Rahmen des Quartetts zurückgeführt: die parallelen Arpeggien steigern sich zu einem dynamisch verschmelzenden Kompaktklang, bevor sich die Bewegung in ihr Gegenteil verkehrt und nach schwach pulsierenden Signalen in einer "endlosen" Fermate mündet.

Wirklich entscheidend wurden für mich die Jahre 1966 und 1967, in denen ich meine Vorstellungen über Sprache und Technik und meine ästhetische Haltung abermals änderte. In dieser Zeit schrieb ich mein zweites Violinkonzert und mein zweites Streichquartett, und ich glaube, dass mir gerade das Quartett besonders gelungen ist. Ich verwendete darin eine offene und sehr persönliche Schreibweise, die mich zwang, Quartettstil-Klischees zu vermeiden, indem ich die Ausführenden dazu verpflichtete, sich zusammen mit mir an der Suche nach Neuem zu beteiligen. Ich dachte an eine Klangwelt und an Ausdrucksmittel, die den Interpreten von der "Werktreue" entbinden und aus der stereotypen "Pflichterfüllung" herausführen. Seither sehe ich meine Werke nicht mehr nur als musikalische Kompositionen im hergebrachten Sinn an, sondern denke auch an die Organisation von "Einheiten", in denen sich klangliche, plastische und visuelle Aspekte zu einem Ganzen integrieren. Dabei möchte ich den höchstmöglichen Grad des expressiven Gleichgewichts und der Verbindung mit dem Hörer erreichen.

Für jede besetzungsmäßige Kategorie: für Solokompositionen, kleine Ensembles und für das große Orchester, habe ich eine eigene "graphische" Notation entwickelt. Ich bin der Meinung, dass jede Kombination sich auf eine andere Art auswirkt; außerdem glaube ich, wir Komponisten hätten die Pflicht, neue Wege zu gehen. Gleichzeitig bin ich mir aber bewusst, dass die Ausführenden von ihren Musikschulen her eine äußerst begrenzte und in ästhetischer Hinsicht traditionelle Ausbildung mitbringen. Als Orchestermitglied kenne ich leider die abweisende Haltung der Musiker recht gut, die sie mitunter Werken der Avantgarde gegenüber einnehmen. Darum habe ich mich bei jedem neuen Element, das ich meiner musikalischen Sprache und Notation einverleibte, zuerst davon überzeugt, dass es meine Ausdrucksabsichten wirklich verständlich macht.

Über die Elemente meiner "Graphik" musste ich lange nachdenken, um die besten und leichtest realisierbaren Resultate zu erreichen, die meiner ursprünglichen Idee am nächsten kommen.

Manuel Enriquez


PAUL HINDEMITH: 6. Streichquartett (1945)

Sein letztes, 1945 in Amerika entstandenes Quartett schrieb Hindemith für das eigene häusliche Musizieren, nicht für den Konzertbetrieb. So erklärt sich der leichte, unbeschwerte Ton des Ganzen, der eine Fülle formaler und satztechnischer Feinheiten verbirgt. Es ist ein intimes Werk, beschaulich und doch beschwingt. Kein Wunder, dass es in einer Zeit, die überall Tiefsinn und Ausdruck von Schrecken und Verzweiflung sucht, unterschätzt wird.

der gesamte ausführliche Texte von Rudolf Stephan kann hier nicht veröffentlicht werden!


HANS WERNER HENZE: 5. Streichquartett (1976-77)
In Memoriam Benjamin Britten

1. Satz Viertel = 72

2. Satz atemlos, wild

3. Satz Viertel = Herzschlag

4. Satz still, entlegen

5. Satz Echos, Erinnerungen ganz von Fern

6. Satz Morgenlied

Die ersten Skizzen zu diesem Werk entstanden im März 1976 auf den verschiedenen Stationen eines Fluges von Rom nach Sydney. Sie sind mit Datum, Uhrzeit und Flugroute versehen. Mit wenigen Veränderungen sind sie das Grundmaterial der Komposition geworden. In Sydney hat der Tänzer Mark Wraith mir einen seiner choreographischen Träume aufgeschrieben - ich habe versucht, in Musik wiederzugeben, was ihm an Bewegung in Raum und Psyche vorgeschwebt hat. Es ist von Alleinsein die Rede, von Kampf, Nachtmahren, von Stille und vom Heraufkommen des Morgens, von Genesung. Im Sommer 1976 wurde die Musik weiter entwickelt, aber erst über die Jahreswende nach 1977 wurde der Ausbau des Ganzen in Angriff genommen und seine endgültige Form gefunden. Das Quartett besteht aus sechs Sätzen.

Der erste, in Inventionsform, ist ein klagendes Arioso, in dessen Lyrik die Thematik der ganzen Arbeit sich schon vorbildet. Er hat in den Skizzen den Titel Sommersturm - er wurde während eines dreitägigen Scirocco in den Albaner Bergen aufgeschrieben. Überall ist der tagebuchartige Charakter dieses Quartetts zu verfolgen.

Der zweite, stürmisch vorwärtstreibende Satz ist ein vierstimmiger Kontrapunkt in zwei Versen. Für die ersten 58 Takte hat die Viola die Hauptstimme. Das Violoncello spielt eine Nebenstimme dagegen. Gleichzeitig wird von der ersten Geige das Tonmaterial der Bratschenmusik krebsförmig in verminderter Quintlage gespielt und das des Cellos auf die gleiche Weise, aber in Quartlage, von der zweiten Geige. Haupt- und Nebenstimmen werden also miteinander kontrapunktiert. Die beiden Violinpartien überlappen allerdings den Doppelstrich (der das Ende der Viola-Musik bezeichnet) um 13 Takte, sind von diesem Augenblick an schon hauptstimmig. Sobald ihr bisheriges Material (also immer noch krebsläufig die Tonfolgen von Cello und Bratsche) abgesponnen ist und damit diese Art Zwischenspiel beendet, treten sie die Hauptfunktionen ganz an, übernehmen im nun einsetzenden zweiten Vers die Hauptstimmen, die erste Violine die der Viola aus dem ersten Vers, die zweite die des Cellos.

Die Viola beginnt schon im Zwischenspiel mit der krebsgängigen Umkehrung der Partie der zweiten Violine aus dem ersten Vers, das Cello, das im Zwischenspiel frei kontrapunktierte, setzt erst zu Beginn des zweiten Verses an zum krebsförmigen Gang der Umkehrung der vorigen Partie der ersten Violine.

Der zweite Vers verwandelt die Welt des ersten. Das Tonmaterial ist streng das gleiche, aber rhythmisch und im Affekt entsteht wesentlich anderes. Während im ersten Vers harte Akzente und immer neue Impulse die Musik vorangetrieben hatten, kraftvoll und rastlos, scheinen die Werte im zweiten Teil sich voneinander lösen zu wollen, in einem Verlust von Schwerkraft, ein flüchtiges, auseinanderstrebendes Element durchzieht ihn, eine Hektik, die schließlich in Improvisation übergeht, die das alles wie in einer Zentrifuge auffängt und zerbricht.

Dem folgen drei ruhige Stücke, Sätze 3, 4 und 5, das eine voller Schweigen und zum Stillstand kommend, im Tempo des Herzschlages und zuweilen auch langsamer als dieses, das geht hinüber in eine Variante des Madrigals der Kranken aus dem 2. Akt von Wir erreichen den Fluss. Im Original ist diese Musik a capella, in der Übertragung auf Streichquartett sind Gegenstimmen und Verästelungen dazugekommen. Die Abgeschiedenheit und Trauer der Kranken in dem Theaterwerk entspricht ganz der Atmosphäre des Quartetts an diesem Punkt seiner dramatischen Entwicklung, darauf, mit Akzenten von Resignation und Verfall, die Wiederkehr von Elementen des ersten Satzes, dessen Musik hier ins Negative gekehrt ist.

Dann der Schlusssatz, eine Aubade. Vier Aspekte einer Melodie. Vier Strophen. In der ersten liegt das Thema in der Bratsche, ein weit ausgesponnener Gesang, noch unsicher, noch halb im Traum. In der zweiten Strophe übernimmt die 2. Geige diesen Gesang, verhalten noch, es ist das Zerbrechen des Traums. Die Nebenstimmen aus der ersten Strophe werden nicht wieder aufgenommen, dieses Material ist zerstoben, verflogen wie Nachvögel und Fledermäuse beim Frühlicht Dritte Strophe: Es wird heller. Fast quälend der Anbruch des Tages, die Veränderung. Violine 1 führt, die Melodie wird zunehmend bewegter, sprunghafter, wird Zerreißproben ausgesetzt. In der vierten und letzten Strophe übernimmt das Violoncello sie. Die Traumwelt erhält eine neue Realität im Licht der Sonne. Friede, Mäßigung - die flüchtigen Nebenstimmen sind nicht mehr zu hören, es gibt nun festere, solidere Stimmen, in ihrer Verbreiterung färbt die Hauptstimme auf sie ab, sie werden von ihr durchtränkt in zunehmendem Maße, bis sie vertikal gehört werden können und zu Harmonie werden.

Hans Werner Henze

zurück