Das kleine Stück entstand als Geschenk für Juan Allende-Blin zum 60. Geburtstag im November-Dezember '87. Zugrunde liegt ein vierstimmiger Choral aus 30 Klängen, welche wiederholt werden, nebst einem Schlussakkord. Jede Folge wird anders ausgelegt: einmal "schnell, stark, staccato", mit einem wild durch den ganzen Tastaturbereich springenden cantus firmus, einmal "langsam, leise, staccato", wobei nun die Klänge selbst über die ganze Tastatur wandern - die chromatische Skala wird zu einer in großen Septimen. So bleibt der Choral zwar präsent, wird aber durch seine quasi perspektivische Projektion in einem weiten Raum merkwürdig immaterieller, gewissermaßen surreal - wie ·wünsche, die von weither kommen oder in die Ferne gehen.
Dieter Schnebel
Explosante Fixe war ursprünglich nur ein Kompositionsmodell, eine Art Vorlage für Ausarbeitungen: ein Kernstück bestehend aus einem kurzen Originel und sechs Transitoires von unterschiedlicher Länge, fixierte ein Grundmaterial aus Tonreihen, Figurationen, Rhythmen, ohne Festlegung indessen im Instrumentalbereich. Diese Vorlage konnte nach detaillierten Anweisungen des Komponisten von Interpreten zu einer jeweils individuellen Version ausgearbeitet werden, wie beispielsweise Heinz Holliger und Jürg Wyttenbach dies getan haben. Schon 1972 jedoch - ein Jahr nach der Niederschrift des "Kernstücks" - hat Pierre Boulez selbst eine Ausarbeitung für acht Instrumente und elektronische Klangumwandlung vorgenommen, die in erweiterter Fassung bei den Donaueschinger Musiktagen 1973 mit Mitgliedern des BBC Symphony Orchestra und dem Experimentalstudio der Heinrich-Strobel-Stiftung des Südwestfunks unter der Leitung des Komponisten vorgestellt wurde. Später folgte eine Version für Flöte solo, und im vergangenen Jahr schrieb Boulez für den schweizerischen Schlagzeuger Jean-Claude Forestier eine Vibraphon-solo-Fassung aus. Diese wiederum erfuhr in Zusammenarbeit mit dem Komponisten im Freiburger Experimentalstudio eine Erweiterung durch Hinzunahme live-elektronischer Prozeduren. In Anlehnung an die kammermusikalische Version von 1972/73 findet auch diesmal wieder vorab die Tonhöhentransformation des originalen Instrumentalklangs Anwendung. Die neue Fassung folgt damit einer konzeptionellen Devis~. die Boulez seinerzeit im Gespräch mit Josef Häusler so umschrieb:
Ich wollte die Tonhöhe noch viel reicher machen. Die Elektronik hat selbstverständlich im Tonhöhenbereich sehr viel Komplexität gebracht. Und dazu kam auch noch die Klangfarbenveränderung. Ich hatte oft bemerkt, dass ein Instrument, das durch Elektronik transformiert wird, allmählich vollkommen anonym wirkt, und ich wollte eine Art Gradation herstellen zwischen der Individualität des Instruments, das praktisch nicht oder nur sehr wenig transformiert wird, und der totalen Anonymität.
Originalton und Klangtransformation sind in dieser neuen Fassung nicht nur statische Klangereignisse: durch unterschiedliche Nachhall-Länge und Lautsprecher-Zuordnung, durch Klangwanderung (Halaphon) und zeitlich versetzte Klangwiedergabe (Verzögerung) wird der gesamte Raum in die Komposition integriert, wobei zeitweise die Grenzen des akustischen Raumes überschritten, aufgelöst werden.
Hans Peter Haller
(I Raum; II Zeit)
Ein erster Versuch aus der Arbeit mit elektronischen Klangumwandlungen am Experimentalstudio des Südwestfunks in Freiburg (zusammen mit Hans Peter Haller), entstanden während der schon lange währenden Arbeit an einem größeren Werk (Monotonien) im März 88. In diesen Studien Beschränkung auf nur wenige Mittel: räumliche Ausformung des Klangs über eine Lautsprecherquadrophonie und mittels einer Hallmaschine, welche die Illusion verschiedenster Klangräume zu schaffen vermag; zeitliche Auffächerung des Klangs durch eine Zeitverzögerungs- und Transpositionsmaschine, welche Frequenzen verschnellert oder verlangsamt - also transportiert - und Zeitfolgen quasi kanonisch spreizt. In der ersten Studie geht es um die räumliche Entfaltung des Klangs: Töne entfernen sich, verschwinden, kommen näher; sind dicht verklumpt oder weit gestreut; gehen nach rechts oder links, drehen sich - führen so in Weiten des Erlebens oder in Enge (die tatsächlich Angst macht).
In der zweiten Studie zeitliche Entfaltung des Klangs: ein vereinzelter Impuls, der dann mit einem zweiten zur rhythmischen Zelle wird; aus quasi morsenden Einheiten entsteht Bewegung, die eine eigene Dynamik gewinnt: drängende Zeit oder nachlassende, oder einfach dahingehende, die in ihren Spannungsverläufen wiederum Erleben beinhaltet - konflikthafte Anspannung oder lustvolle, und wiederum ihre Lösung, sei es in Ermüdung oder schlicht in wohliger Entspannung.
Dieter Schnebel
Riley ist in erster Linie ein Solo-Improvisator, der sich in der Aufführung durch Repetition, Bandschleifen, Bandverzögerungs-Systeme und Mehrspur-Vorrichtungen selbst "multipliziert''. Der Impuls seiner Keyboard Studies (die er um 1964 begann), ist primär rhythmischer und melodischer Natur. Fünfzehn kurze, wirbelnde modale "Figuren", die zusammen eine [festgelegte] Reihenfolge bilden, jede um drei oder vier Töne des Modus zentriert, werden jeweils unbegrenzt oft wiederholt. Sie unterscheiden sich von Cages .Skalen jedoch dadurch, dass die rhythmische Vielfalt keine Rolle spielt, da die Figuren in. regelmäßigen, [je] gleich langen Werten gegen einen Hintergrund-Puls gesetzt werden (implizit in den Keyboard Studies, explizit in In C). Der Spieler arbeitet sich durch das Material hindurch, wobei er sicherstellt, dass die Eröffnungs-( Bass-)Figur ständig präsent ist. In einer solistischen Aufführung wird dies erreicht, indem entweder beide Hände auf der Tastatur benutzt werden oder zusätzliche Bandschleifen zur Anwendung kommen; in einer Ensemble-Aufführung, in der eine Reihe von Spielern irgendwelche Tasteninstrumente bedienen, ist es natürlich einfacher, dieses "Ostinato" durchzuhalten.
Eine Solo-Aufführung vermag die Figuren in einer sehr feinen Klanglinie nachzuzeichnen, in der alles noch weiter "reduziert" wird hin zu einer intensiven Erforschung der Veränderungen, die durch die Repetition und die Kombination der Tonhöhen ·verursacht werden, wie sie sukzessiv bis zum Intervall der Oktave ausgedehnt werden - immer in Relation zu dem permanenten melodischen "Fundament" des Modus im Bass. Die Multi-Repetition gibt jeder Figur ein unabhängiges rhythmisches, melodisches und Akzent-Profil: Wiederholung schafft diese inneren Betonungen, die - obgleich rein lokal - kleine Wirbel in dem weiterfließenden Kontinuum erzeugen, durch die jede andere Art von Betonung oder Schärfung ausgeschlossen wird. Innerhalb eines komplett statischen musikalischen Environments herrscht ständige Bewegung.
Die Aufführung durch eine Gruppe von Tasten-Instrumenten kompliziert den Plan. Hier setzt jeder Spieler seine Figur fort oder führt eine neue ein, solange er stets in auffallender Distanz zu den anderen Spielern bleibt. Durch den Spielraum, den Riley der individuellen Entscheidung in diesem Stück und besonders in In C gewährt, unterscheidet er .sich von Young und Reich, die fast keine individuelle Entfaltung in ihrer rigoroser organisierten Musik zulassen. Augenscheinlich rührt Rileys Gewähren lassen von dem Umstand her, dass er vor allem ein Spieler und Improvisator ist, der komponiert, und weniger ein Komponist, der spielt.
Michael Nyman