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Ausschnitt aus "Musik …, verwandelt" Seiten 245 bis 258
von Frank Gertich, Julia Gerlach, Golo Föllmer
aus dem Jahre 1995


KONZERTAKTIVITÄTEN

Józef Patkowski

Nach dem Aufenthalt von Herbert Brün wurde 1979 als Gastdozent der HdK der polnische Musikwissenschaftler und Organisator Józef Patkowski nach Berlin eingeladen. Er war mit der elektroakustischen Musik seit ihrer Frühzeit vertraut: 1957 hatte er das Experimentalstudio des Polnischen Rundfunks in Warschau mitbegründet. Außerdem war er als Vorsitzender des Programmkomitees der für die europäische Musiklandschaft so wichtigen Festivalreihe »Warschauer Herbst« ein professioneller Konzertveranstalter von internationalem Format.
Diese Erfahrungen kamen nun dem Elektronischen Studio der TU zugute. Patkowski regte schon bald nach seiner Ankunft Konzerte mit elektroakustischer Musik an, die sich von den Veranstaltungen der »Klangwerkstatt« insofern deutlich unterschieden, als nun auch und oft sogar in der Hauptsache Produktionen anderer Studios präsentiert wurden. Das bedeutete nicht weniger als den Ausbruch aus der künstlerischen Isolation, hatte man doch bis dahin musikalisch ausschließlich »im eigenen Saft geschmort«. Beim ersten Konzert, das im Juli 1979 im Amerika Haus Berlin stattfand, wurden neben der TU-Produktion Apostasie von Takehito Shimazu neue Kompositionen von John Chowning, Krzysztof Knittel und Alejandro Viñao (produziert in den Studios von Stanford, Buffalo, Warschau und London) zu Gehör gebracht. Außerdem kamen unter der Rubrik »Rückblicke« zwei Klassiker aus dem Jahre 1966 zur Aufführung: Tratto von Bernd Alois Zimmermann und der Film Altisonans von Karl-Birger Blomdahl. Ebenso wie nach außen hatte man sich also der Geschichte der Gattung geöffnet, ein Konzept, das gleichfalls die kommenden Konzertaktivitäten bestimmen sollte.

stimmen

Diese Aktivitäten wurden nun mit einer gewissen Regelmäßigkeit betrieben, so daß die Lautsprecher in jedem Semester mindestens einmal aufgebaut wurden. Die Konzertreihe bekam den Titel stimmen. Bei der Wahl des Ausrichtungsortes mußte man jedoch Flexibilität beweisen, wodurch mitunter problematische Situationen entstanden. So fand das zweite stimmen- Konzert als Teil des Rahmenprogramms der 100-Jahrfeier der Technischen Universität Ende Oktober 1979 im neuen Mathematik-Gebäude statt. Leider waren die Fenster des Neubaus zu diesem Zeitpunkt noch mit Scheiben versehen, die sich nicht schließen ließen, weshalb das Ereignis als »kältestes Konzert« in die Studio-Chronik einging.
Die dritte Ausgabe fand im April 1980 im Lichthof der TU statt. Das Publikum war 200 Personen stark, der Eintritt betrug 2 DM. Bei dieser Gelegenheit wurde mit der Präsentation von Multimedia-Arbeiten eine Tradition begonnen, an die später — u.a. bei den Inventionen — mehrfach angeknüpft wurde. Es handelt sich um Vorführungen, die neben der (Tonband-)Musik Diaprojektionen mit mehreren Bildwerfern einbeziehen, eine Gattung, die — unter der Bezeichnung »Bildspel« — besonders in Schweden gepflegt wird. Für die Präsentation der Bildspele wurde eigens eine Projektionsleinwand in Überbreite angeschafft. Bei den dritten
stimmen wurden MYR von Rolf Enström (MYR war vorher beim »Warschauer Herbst« aufgeführt worden, mit Folkmar Hein im Publikum. Er war sofort begeistert und bemühte sich in der Folge um die Aufführung des Werkes in Berlin. Die Verbindung des Elektronischen Studios mit der elektroakustischen Musikszene in Schweden wurde später kontinuierlich weiter gepflegt.) und City Visit von Makoto Shinohara präsentiert.

Die Konfrontation mit auswärtigen Produktionen und mit Gastkomponisten hatte ein Überdenken der Position des Elektronischen Studios zur Folge. Die neue Eigendefinition schlug sich nieder in der ab nun konsequent geführten Bezeichnung — eben als »Elektronisches Studio« in Abgrenzung zum für die Ausrichtung von Saalbeschallungen usw. zuständigen »Tonstudio« der Technischen Universität. Rein äußerlich dokumentierte sich das neue Selbstbewußtsein in einem Logo, das 1979 zunächst für die Plakate der stimmen-Konzerte entworfen wurde, um in der Folgezeit bei verschiedenen Gelegenheiten Verwendung zu finden.


»Für die Präsentation von elektronischer Musik ist der Lichthof der Technischen Universität fraglos prädestiniert.
Die quadratische Form ist wie geschaffen für quadrophonisches Hören, die streng ausgerichteten Verhältnisse des konventionellen Konzerts sind aufgehoben:
Man lagert locker verstreut auf dem Teppich.«
(Gottfried Eberle)

Bei Konzerten im Oktober 1980 ergaben sichneuerliche Kontakte zum Berliner Künstlerprogramm des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD)[Schon zu Fritz Winckels Zeiten hatten verschiedentlich DAAD-Stipendiaten im Elektronischen Studio der TU gearbeitet (siehe S. 63f. und S. 66).], eine Wendung, die auf die weiteren Aktivitäten des Elektronischen Studios großen Einfluß haben sollte.

Kooperation mit dem DAAD

Der Zusammenarbeit mit dem Berliner Künstlerprogramm des DAAD besonders förderlich war das persönliche Engagement von Helga Retzer, die dort das Musikressort betreute, denn »sie brachte dem Projekt ›stimmen‹ unkompliziert und neugierig eine geistige, finanzielle und organisatorische Unterstützung entgegen.« [Folkmar Hein, Beitrag in: Blickwechsel. 25 Jahre Berliner Künstlerprogramm (hg. von Stefanie Endlich und Rainer Höynck), Berlin 1988, S. 374.] Das Berliner Künstlerprogramm hatte in dem Bemühen, seinen Gästen Foren zur Präsentation ihrer Arbeit zu schaffen, eine Tradition von Konzertveranstaltungen aufgebaut, die diese Institution unter den Veranstaltern in Berlin zur wichtigsten Stimme im Bereich der Neuen bzw. experimentellen Musik hatte werden lassen. Neben zahlreichen kleineren Ereignissen hatte man sich auch um festivalartige Veranstaltungsreihen bemüht. So war aus den »Arbeitstagen für Musik« (seit 1970, Leitung: Wolfgang Burde) zunächst die »Woche der avantgardistischen Musik« im Juli 1972 hervorgegangen, deren künstlerische Leitung in den Händen von Walter Bachauer lag. Er organisierte dann die erfolgreichen »Metamusik«- Festivals (1974, 1976 und 1978), die in der stets überfüllten Neuen Nationalgalerie Weltmusik avant la lettre boten.


1982 wurde die Bildvorlage für das »stimmen«-Plakat (ein Vielzeilen-Oszillogramm) mit dem neuen Studio-Logo für das Cover einer Informationsbroschüre über das Studio verwendet, einer frühen Vorläuferin der vorliegenden Publikation.

Bei Projekten dieser Größenordnung wurde für den DAAD die Zusammenarbeit mit anderen Institutionen zunehmend wichtiger. So wurden die »Metamusik«-Festivals gemeinsam mit den Berliner Festspielen ausgerichtet; die großangelegte Ausstellung »Für Augen und Ohren« (1980, Projektleitung: René Block und Nele Hertling) war eine Kooperation mit der Akademie der Künste. Gemeinsam mit der Hochschule der Künste veranstaltete das Künstlerprogramm die Reihe
»Klangfiguren«, für deren Programm Witold Szalonek, Isang Yun und Frank Michael Beyer verantwortlich zeichneten. Als sich in der letzteren Konzertfolge die inhaltlichen Schwerpunkte zu verschieben begannen, wurde mit der

»in Zusammenarbeit mit dem Elektronischen Studio der Technischen Universität unter dem Titel stimmen veranstalteten Reihe von Konzerten ein neuer Ansatz gesucht, der insbesondere auch der Wechselwirkung von Musik und Technik wieder breiteren Raum bereitstellen sollte,« [5 Klaus Ebbeke: »Inventionen’82«, in: Blickwechsel(siehe Anm. 4), S. 279.]

eine Suche, die aufs glücklichste mit den an der TU von Józef Patkowski angeregten Aktivitäten zusammentraf. Zunächst bei Gelegenheit zweier Konzerte [6 Bei den Abenden mit dem Ensemble »MW 2« (Krakau/Lodz) unter dem Titel »Boguslaw Schaeffers Musik-Theater« kamen die im TU-Studio produzierten Stücke Kantate, Berlin’80/I, und Berlin ’80/II zurAufführung.] mit Boguslaw Schaeffer im Oktober 1980 und danach bei einem weiteren stimmen-Konzert begann eine für beide Seiten gewinnbringende Kooperation, die bis heute andauert, und die — neben den gemeinsamen Konzertveranstaltungen — bewirkte, daß die Stipendiaten des Berliner Künstlerprogramms als Gastkomponisten das musikalische Spektrum im Elektronischen Studio erweiterten .

Auswärtige Konzerte

Durch die Kontakte mit anderen Studios anläßlich der stimmen-Konzerte wurden nun im Elektronischen Studio produzierte Stücke auf verschiedenen Festivals vorgestellt, zum Beispiel beim »Internationalen Festival Experimenteller Musik Bourges« (seit 1979) oder bei »MusicaVerticale« in Rom (seit 1981); die Folkwang-Hochschule in Essen widmete dem TU-Studio im Oktober 1981 ein ausführliches Portrait-Konzert. Durch die Vermittlung von Józef Patkowski kam es zu Vorführungen beim »Warschauer Herbst« (seit 1981). Im November 1981 wurde das Requiem für Elektronik und Trompeter von Takehito Shimazu beim 15. »Pan-Musik-Festival« in Tokyo uraufgeführt. 1982 fanden die Weltmusiktage der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik in Österreich statt und brachten u.a. die Uraufführungen von Takehito Shimazus Wellenmusik II und von Sukhi Kangs Mutatio perpetua.
Die Gastkomponisten bedankten sich für die Arbeitsmöglichkeiten im Studio, indem sie ihrerseits TU-Produktionen in ihrer Heimat präsentierten. So führte zum Beispiel Takehito Shimazu in der Tokyoter Gagukei-Universität im Februar 1982 unter anderem Tonbandstücke von Ricardo Mandolini, Boguslaw Schaeffer und Sukhi Kang vor; seine eigenen Kompositionen wurden verschiedentlich bei den von der Gruppe TATA organisierten Festivals für experimentelle Musik in Tokyo gespielt. Bei dem von Sukhi Kang mitorganisierten Pan-Musik-Festival Seoul 1981 wurden an zwei Abenden insgesamt 14 TU-Produktionen aus der Zeit von 1975 bis 1981 vorgestellt.



Inventionen

Inventionen 1982-1986


»Ermutigt durch den Erfolg dieser ersten Konzerte [der stimmen], war der nächste, größere Schritt hin zu den Inventionen nur folgerichtig: Während des ›Warschauer Herbstes‹ 1981 nachts gegen 3 Uhr in der Küche von Patkowski entstand das erste Programm [...], das ich dann mit dem Komponisten Sukhi Kang ([...], der auch den Namen des Festivals erfand) und Helga Retzer detailliert weiterplante und realisierte.« [Folkmar Hein, in: Blickwechsel (siehe Anm. 4), S. 374.]
Helga Retzer betreute das Festival 1982 bis 1984; auch bei der Planung für 1985 war sie noch beteiligt. Im August 1985 kam sie bei einem Autounfall ums Leben.

Für die ersten Inventionen im Frühjahr 1982 (Untertitel: »Experimentelle Musik an vier Abenden«) zeichnete neben Helga Retzer und Ingrid Beirer für den DAAD und Folkmar Hein für die TU als künstlerischer Leiter Sukhi Kang verantwortlich. Neben einigen Berliner Produktionen kamen Werke von Iannis Xenakis und Produktionen des EMS Stockholm zur Aufführung; am letzten Abend gab man eine Oper von Anestis Logothetis in einer Aufführung des K & K Experimentalstudios Wien [9 Mit Gunda König undDieter Kaufmann.]. Während des Festivals wurden 16 Stücke von 13 Komponisten aufgeführt.

1983 fanden die Inventionen (Untertitel: »Elektroakustische Musik an neun Abenden«) erstmals in den von der TU zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten auf dem ehemaligen AEG-Gelände in der Ackerstraße statt, die bis 1986 zum ständigen Austragungsort des Festivals wurden. Die ungezwungene Atmosphäre in der weitläufigen Dachetage — mit der zentral gelegenen Bar als Kommunikationsmittelpunkt und den großzügigen Hallen für Aufführungen und Installationen — prägte den Charakter der Inventionen in entscheidendem Maße. Die Hallen wurden mit Teppichboden ausgestattet; auf eine Bestuhlung wurde zugunsten von Sitzkissen verzichtet.
Die technische Realisation stand unter der fachkundigen Leitung von Christian Melzer, der bis 1986 den reibungslosen Ablauf der Konzerte sicherstellte.


oben: Ingo Metzmacher und Martin Schulz spielen »Kontakte für elektronische Klänge, Klavier und Schlagzeug« von Karlheinz Stockhausen.

Inventionen ’83.

unten: Workshop mit Hans Peter Haller, Józef Patkowski und Luigi Nono (Foto: Beirer)


Besonders spektakulär waren 1983 zwei Aufführungen von Luigi Nonos Diario Polacco No.2, in Zusammenarbeit mit dem Freiburger Experimentalstudio der Heinrich-Strobel-Stiftung des Südwestfunks Baden-Baden. Ein Portraitkonzert stellte elektroakustische Kompositionen von Ricardo Mandolini vor. Die Aufführung von Karlheinz Stockhausens Komposition Kontakte mit Martin Schulz und Ingo Metzmacher war dermaßen überfüllt, daß sich das Publikum fast bis unter den Konzertflügel drängte. Das EMS Stockholm war erneut mit mehreren Multimedia- Produktionen zu Gast. Bei einem Konzert mit verschiedenen Computer-Kompositionen aus Kalifornien unter der Leitung von Morton Subotnick wurde die komplizierte Live-Elektronik von Klaus Buhlert bedient.
Das Festival brachte 32 Werke von 25 Komponisten zu Gehör, darunter vier Uraufführungen; außerdem wurden mehrere Workshops (für Schülerinnen und Schüler) veranstaltet, u.a. mit Luigi Nono und Józef Patkowski.

1984 lag ein Schwerpunkt auf der Präsentation experimenteller Klangerzeuger, besonders eindrucksvoll bei den Vorführungen der kanadischen Gruppe »Sonde«. Zwei lange Abende wurden von der Pariser »Groupe de Recherches Musicales« des Institut National de l’Audiovisuel (INA · GRM) mit ihrem Lautsprecherorchester, dem »Acousmonium« bestritten (4 Konzerte, außerdem 2 Workshops mit Schülerinnen und Schülern). Ein Konzert mit elektroakustischer Musik aus Lateinamerika, kommentiert von Coriún Aharonián und Graciela Paraskevaídis, erlaubte einen interessanten Blick auf eine musikalische Terra incognita. Die Uraufführung von Sukhi Kangs Inventio musicae clavichordii et sonorum artificiosorum (Klavier: Alan Marks) war ein weiterer Höhepunkt des Festivals.
In 12 Konzerten wurden 63 Werke von 51 Komponistinnen und Komponisten aufgeführt, darunter acht Uraufführungen; außerdem gab es zwei Klanginstallationen (von Andrew Culver und Bill Fontana).

TU-Gebäude in der Ackerstraße 71-76, Berlin-Wedding: Eingangsbereich.

Grundriß der Dachetage. Hier fanden von 1983 bis 1986 die »Inventionen«- Festivals statt (Hallen A bis F)

1985 wurden die Inventionen mit der von der Akademie der Künste ausgerichteten Veranstaltungsreihe Sprachen der Künste koordiniert, die von Eberhard Blum, Nele Hertling, Gerald Humel und Marion Ziemann organisiert wurde.
Neben dem Programmheft, mittlerweile zu einem Buch von 132 Seiten herangewachsen, erschienen als Sonderdrucke zwei Publikationen: von Klaus Buhlert (
Musiksprachen auf Computersystemen) und Klaus Ebbeke (Phasen. Zur Geschichte der elektronischen Musik). In 18 Konzerten (14 in der Ackerstraße und vier in der Akademie der Künste) wurden 75 Werke/Performances von 49 Komponisten gegeben, darunter sechs Uraufführungen, außerdem Klanginstallationen von Rolf Julius und Martin Riches. Hans Peter Haller gab in der Akademie der Künste einen Workshop »Elektronische Klangumformung« für Schülerinnen und Schüler.

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Inventionen ’85: Klanginstallation von Julius.

Die Koexistenz mit den Sprachen der Künste wurde 1986 fortgesetzt, nun neben der bloßen terminlichen Koexistenz auch unter der gemeinsamen inhaltlichen Vorgabe »Musik und Sprache«. Dieses Thema begriff auch das Schaffen von »Komponisten als Hörspielmachern« ein; es wurde dem Publikum in Form einer Audiothek erschlossen, in der Aufzeichnungen von 71 im »WDR3-HörSpielStudio« erstgesendeten Hörstücken abrufbar waren. Ein besonderer Publikumsmagnet wurde ein Performance-Block, der unter anderem Auftritte von Diamanda Galas, Alvin Lucier und Carles Santos bot. Einen Höhepunkt bildete die Uraufführung einer szenischen Fassung der Penthesilea-Aubade, einer im Auftrag des WDR im Elektronischen Studio der TU produzierten Hörspielarbeit von Carlo Quartucci und Carla Tatò mit der Musik von Sukhi Kang. Die direkt gegenüber dem TU-Gebäude gelegene St.-Sebastian-Kirche war der Rahmen für ein Konzert der japanischen Mönchs-Gruppe »Karyobinga« der Shingon-Sekte, die eigens für sie verfaßte neue Kompositionen in der Tradition des Shô-Myô-Gesangsstils vortrug. Das Programmbuch, seit 1985 redigiert von Klaus Ebbeke, wartete in der 1986er Ausgabe — neben Informationen zu den einzelnen Werken — in einem einleitenden Abschnitt von Aufsätzen zum Thema »Musik und Sprache« mit durchaus anspruchsvoller musikwissenschaftlicher Reflexion auf. Der Gesamtumfang betrug 320 Seiten. Das Rahmenprogramm schloß neben der Audiothek eine Auswahl von Filmen, das Projekt »Walkman Berlin 1986« von Alvin Curran, Cora und Willem de Ridder, einen Workshop und drei Vorträge ein. In 31 Konzerten wurden 80 Werke aufgeführt, darunter 15 Uraufführungen, außerdem gab es Klanginstallationen und -skulpturen von Stephan von Huene und John Driscoll.

Inventionen 1989-1994


1988 konnte sich die Berliner Kulturverwaltung endlich doch zur Förderung einer 1989er Ausgabe der Inventionen entschließen. Das Festival wurde mit Hilfe einer kräftigen Finanzspritze wiederbelebt, die dem Etat des für die Förderung der touristischen Attraktivität der »Weltstadt mit Herz« zuständigen Verkehrsamtes entnommen wurde.

Mit der ersten Stafette der Veranstaltungsserie war diese neue Folge vor allem durch die technische Ausrichtung der Konzerte verbunden, die nach wie vor zu wesentlichen Teilen von Studenten der Technischen Universität getragen wurde, außerdem durch die Kontinuität stiftende Präsenz bestimmter Studios (EMS Stockholm, Experimentalstudio der Heinrich-Storbel-Stiftung des SWF, INA-GRM, Studio Musikakademie Basel) und Interpreten, später auch bestimmter Ensembles (Les Percussions de Strasbourg, Ensemble Köln, Ensemble Modern, Arditti-Streichquartett). Zum dritten »hatten es die Inventionen immer als eine ihrer Aufgaben angesehen, durch das Wieder- Spielen der neueren Musik dem Vergessen entgegenzuwirken. Wenn auch die Zahl der Uraufführungen begrenzt ist, werden sich dem Publikum doch einige Erstbegegnungen bieten, vielleicht aber auch Wiederbegegnungen, die scheinbar Vertrautes in einem neuen Lichte sichtbar — oder besser: hörbar — werden lassen« (Klaus Ebbeke: Streichquartette nach 1945, in Inventionen-89-Programmbuch). Der schon früher gepflegte Dialog mit der Geschichte konnte nun mit erweiterten finanziellen Ressourcen auch auf andere Gattungen ausgedehnt werden. Das zeigte sich z. B. 1989 in der Programmschiene »Musik für ca. 16 Saiten«, die zeitgenössische Streichquartette präsentierte und anläßlich derer Klaus Ebbeke die eben zitierten Zeilen formulierte.

1982 bis 1986 hatte man sich von dem Grundsatz leiten lassen, neben den zahlreichen Uraufführungen »auch ältere, in ihrer Qualität jedoch unbestrittene, gleichsam ›klassische‹ Kompositionen zur Aufführung zu bringen, [um so] Beiträge zu einer Art elektroakustischen ›Repertoires‹ zu leisten.« So sollte »dem gerade auf dem Gebiet der künstlerischen Arbeit mit technischen Medien weitverbreiteten unreflektierten Fortschrittsglauben ein kleines Korrektiv entgegengesetzt werden.« (Klaus Ebbeke in
Blickwechsel S. 279). Seit 1989 fand sich jedoch die schwerpunktmäßige Präsentation elektroakustischer Musik bzw. damit verwandter Spielarten von Performance und Medienkunst vom Mittelpunkt der Programmkonzeption an deren Rand gedrängt. Dennoch blieb dieser Teil des Festivals in Berlin nach wie vor der wichtigste Anwalt von sich der technischen Entwicklung stellenden Kunstformen, zumindest im musikalischen Bereich.

Die Gestaltung der Inventionen-Plakate spiegelt Kontinuität und Veränderung gleichermaßen: Während bis 1986 ein einheitliches Design im markanten »Inventionen-Rot« mit seinen auffälligen in Kreissegmenten angeordneten Schriftzügen den Zusammenhang der Veranstaltungsreihe über die Jahre deutlich dokumentierte, wurden ab 1989 bei der Gestaltung unterschiedliche Gesichtspunkte, z. B. die jeweils verschiedenen inhaltlichen Schwerpunkte berücksichtigt. Für beide Zeitabschnitte (mit Ausnahme der Inventionen ’90) hatte das Berliner Designer-Duo Nicolaus Ott / Bernard Stein die grafische Gestaltung der Plakate, Programmbuch-Umschläge und Schallplatten übernommen.
Die inhaltlichen Diversitäten drangen ab 1989 auch in die Programmgestaltung selbst ein, die zunächst deutlich voneinander getrennte Programm-Schienen ausbildete, später aber zuweilen in einem als Vielfalt mißverstandenen Mischmasch unterzugehen drohte. Dazu trug nicht unwesentlich bei, daß die Inventionen nun auch von der Akademie der Künste als Forum für die musikalische Produktion ihrer Mitglieder instrumentalisiert wurden. Eine weitere gewichtige Komponente der neuen Programmgestaltung war der vermehrte Einbezug von Performance- und Fluxus-Künstlern, eine Entwicklung, die sich schon 1986 angedeutet hatte und die sich deutlich dem Einfluß von René Block verdankte
[René Block betreute seit 1982 als Projektleiter das Ressort Bildende Kunst und die daadgalerie, den ständigen Ausstellungsraum des Berliner Künstlerprogramms des DAAD. Nach dem Tod von Helga Retzer übernahm er zusätzlich die Projektleitung für das Musikressort.].

Zusehends vermehrten sich die Konzerte und verteilten sich außerdem nach dem Wegfall des Festivalzentrums in der Ackerstraße auf mehr und mehr Veranstaltungsorte in ganz Berlin. Dieses hypertrophe Wachstum - bei den Inventionen ’92 fanden 34 Ereignisse verteilt über sieben Wochen an 13 verschiedenen Orten statt - war der Übersichtlichkeit des Festivals ebenso abträglich wie die immer buntere Programmkonzeption.
Die Überfülle der Veranstaltungen stellte auch höhere Ansprüche an die Aufnahmefähigkeit des Publikums, was zur Folge hatte, daß die eher spektakulären Ereignisse, zumal die besonders aufwendigen Musiktheater-Produktionen, als Publikumsmagneten wirkten. So wurde unter Umständen dem einen oder anderen Konzert mit Kammer- oder mit elektroakustischer Musik nicht die ihm gebührende Aufmerksamkeit entgegengebracht.

Für die
Inventionen ’89 übernahm die Technische Universität Berlin zunächst keinerlei organisatorische und finanzielle Verantwortung; entsprechend tauchen weder das Elektronische Studio noch Folkmar Hein im Programmbuch als Mitveranstalter auf. Das Programm war deutlich in mehrere Schienen aufgeteilt. Unter der Rubrik »Bandbreite« waren — unter der Verantwortung von Christian Kneisel von der Akademie der Künste — sieben Konzerte mit elektroakustischer Musik zusammengefaßt, in denen 24 Werke von 20 Komponistinnen und Komponisten erklangen, davon drei als Uraufführungen. Als »Musik für ca. 16 Saiten« hatte Klaus Ebbeke als repräsentativen Überblick 49 der wichtigsten Werke des zeitgenössischen Streichquartettschaffens zusammengestellt: in zwölf Konzerten erklangen Werke von 45 Komponisten, davon sieben als Uraufführungen. Als Festival im Festival war den Inventionen die von Jon Rose und Matthias Osterwold konzipierte Veranstaltungsreihe »The Relative Violin« eingelagert, die sich in gut besuchten Konzerten, Performances, Installationen, Film- und Videovorführungen und einer Audiothek der Geige widmete. Zusätzlich wurde in der daadgalerie die Ausstellung »Broken Music« gezeigt, in der Ursula Block und Michael Glasmeier einen umfassenden Überblick zum Thema »Schallplatten und Schallplattenobjekte bildender Künstler« zusammengestellt hatten.

Die
Inventionen ’90 betreute als Koordinator Michael Muschner. Das Programm deckte ein äußerst breites inhaltliches Spektrum ab, das neben Kammer- und Orchesterkonzerten eine Vorführung mit Jeanne Loriod an den Ondes Martenot und Oskar Sala am Mixturtrautonium ebenso einschloß wie die Fluxus-Performance Umwälzung — fluxorum organum. EURASIENSTAB ist immer noch Angelpunkt von Henning Christiansen. Dazu wurde eine vollständige Retrospektive der Film- und Fernsehproduktionen von Mauricio Kagel gezeigt. In 23 Konzerten wurden 115 Werke von 87 Komponisten aufgeführt, darunter 13 Uraufführungen. Vorträge und Ausstellungen (Joe Jones, Martin Daske) ergänzten das Programm, zusätzlich wurde ein Workshop »The instrument and the technology« mit der römischen Gruppe »Musica Verticale« veranstaltet.

1991 wurden die Inventionen gemeinsam mit der "Musik im Februar" des DAAD veranstaltet. Programmschwerpunkt war das Werk von Luigi Nono, der im Vorjahr verstorben war. Neben einem Symposion mit renommierten Nono-Experten wurden insgesamt 12 Werke des Komponisten gespielt, zum Teil mit der aufwendigen Live-Elektronik des Freiburger Experimentalstudios der Heinrich-Strobel-Stiftung des Südwestfunks Baden-Baden, dessen künstlerischer Leiter Nono von 1980 bis 1985 gewesen war. Insgesamt wurden in elf Konzerten 43 Werke von 28 Komponisten aufgeführt, darunter elf Uraufführungen, außerdem gab es zwei Ausstellungen (Skizzen und Partituren von Luigi Nono, Klangskulpturen von Alvin Lucier).

1992 konnten die Inventionen ihr zehnjähriges Jubiläum feiern. Ein Schwerpunkt des von Klaus Ebbeke koordinierten Programms war die Präsentation von acht längeren Kompositionen bzw. Werkzyklen von John Cage, unter anderem mit einem Auftritt von »Les Percussions de Strasbourg«, die Cages Schlagzeugkomposition But what about the noise of crumpling paper... aufführten. Das Schaffen von La Monte Young wurde mit der Aufführung von 12 wichtigen Werken sowie mit der fünf Wochen andauernden Licht- und Klang-Installation Dream House zelebriert. Weitere Höhepunkte waren die spektakulären Aufführungen von Robert Ashleys Opern Improvement (Don Leaves Linda) und eL/Aficionado. Zum Rahmenprogramm gehörten drei Ausstellungen, darunter eine Präsentation verschiedener Klanginstallationen von Takehisa Kosugi, außerdem zwei Workshops zur computergestützten Komposition und Klangsynthese, die in die Benutzung der am Pariser IRCAM und am Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe verwendeten Systeme einführten [Für die Aisrichtung dieser beiden Workshops hatte die Technische Universität Räumlichkeiten im Ostflügel des TU-Hauptgebäudes (H 61) zur Verfügung gestellt, die nach den Inventionen ’92 zum vorübergehenden Domizil für das Elektronische Studio wurden (bis November 1993).].
In 34 Konzerten wurden 96 Werke von 69 Komponisten aufgeführt, darunter 14 Uraufführungen. Die Technische Universität stellte im Rahmen der Inventionen ’92 u.a. Gelder für die Fertigstellung der Dokumentation Elektroakustischer Musik in Europa zur Verfügung, ein Projekt des Elektronischen Studios, an dem seit 1988 gearbeitet worden war [Die Dokumentation erstellten Golo Föllmer, Roland Frank und Folkmar Hein. Für genauere Informationen zur Genese des umfangreichen Nachschlagewerks siehe dessen Vorwort, S. V-VI.]..

Inventionen am Ende?

Seit 1992 sollten die Inventionen in zweijährigem Turnus stattfinden, im Wechsel mit der noch aus DDR-Zeiten stammenden und nun von der Berliner Festspiele GmbH übernommenen Musik-Biennale. Mit dieser Planung verbunden waren weitreichende Zusagen über die finanzielle Absicherung beider Veranstaltungsreihen seitens der Senatsverwaltung für Kulturelle Angelegenheiten.

Entsprechend fanden die 10. Inventionen erst
1994 statt.
Als inhaltliche Schwerpunkte des Festivals standen im Vordergrund
a) das Schaffen von Karlheinz Stockhausen, das mit der Präsentation von insgesamt 29 Werken aus der Zeit von 1950 bis 1992 und einem mit führenden Stockhausen-Experten aus aller Welt hochkarätig besetzten Symposion ausführlich gewürdigt wurde und
b) Neue Musik für Schlagzeug, der 13 Konzerte und zwei Klanginstallationen gewidmet waren.
Insgesamt wurden in 33 Konzerten 107 Werke von 70 Komponisten aufgeführt, darunter 23 Uraufführungen. Eine Ausstellung (Christian Marclay), eine Filmvorführung und ein Vortrag rundeten das Programm ab.



Für die Finanzierung der Inventionen-Festivals war privates Sponsoring von Beginn an nicht in Anspruch genommen worden; in den Programmbüchern findet sich keine einzige Anzeige. Stattdessen hatte man sich stets völlig auf die öffentliche Hand verlassen, mit der Begründung, daß nur die kulturpolitische Verpflichtung von Bund und Ländern eine Kontinuität des Veranstaltungsangebotes ohne Einflußnahme auf die künstlerische Arbeit gewährleiste. Dieses spezielle Angebot der Inventionen, nämlich die Präsentation von solcher E-Musik, die sich künstlerisch mit den technischen Medien auseinandersetzt, bedient einen Bedarf, der, wie das Interesse an den Konzerten offensichtlich dokumentiert, in Berlin durchaus besteht, dem aber die Musik-Biennale mit ihrem Festhalten an traditionellen Klangkörpern nicht nachkommen kann und will. Die Streichung der Inventionen wird deshalb im Berliner Konzertleben zunächst eine empfindliche Lücke hinterlassen. Dennoch: Das Beispiel der Durststrecke 1987/88 verleitet zu der Hoffnung, daß die Inventionen nur vorübergehend auf Eis liegen. Wenn die Zwangspause sinnvoll genutzt wird, könnte ein Überdenken der Konzeption — und zwar sowohl in Bezug auf Organisation und Finanzierung als auch auf Umfang und inhaltliches Profil — dem einzigartigen Festival schon bald zu einer Wiederauferstehung verhelfen.
[Nachtrag: Im Juni 1996 wurde eine Minimal-Version des Inventionen-Festivals veranstaltet. Im Rahmen eines stark verknapptem Budgets konnten sieben Konzerte, unter anderen Vorführungen drei der ›Groupe de Recherches Musicales‹, und eine Raumklanginstallation des frankokanadischen Komponisten Christian Calon ausgerichtet werden]

Frank Gertich

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