INVENTIONEN'86


MANFRED KRAUSE:
Sprache in den Kompositionen experimenteller Musik
des Studios für elektronische Musik an der TU Berlin 1953 - 1975

Erinnerungen eines Beteiligten

Es muss in den Jahren 1957/58 gewesen sein, dass ich als Student der Elektrotechnik nach dem Vordiplom in engere Beziehung zu dem damals noch außerordentlich bescheiden ausgestatteten Tonstudio trat, das von Prof. Fritz Winckel geleitet wurde. Ich hatte im Rahmen des damals für alle TU-Studenten verbindlichen Humanistischen Studiums bereits einiges von den Aktivitäten des Studios in Zusammenhang mit experimenteller Musik mitbekommen. Das Humanistische Studium war eine von der britischen Militärregierung nach dem Sieg über Hitler eingeführte Regelung, mit der erreicht werden sollte, dass Naturwissenschaftler und Techniker nicht zu willfährigen Erfüllungsgehilfen unmenschlicher Diktaturen würden. Das von Winckel vertretene Fachgebiet "Naturwissenschaftliche Grundlagen von Sprache und Musik", das heute unter dem Namen "Kommunikationswissenschaft" weiterbesteht, stellte unter den vielen anderen Fächern der damaligen Humanistischen Fakultät eine Besonderheit dar, weil es den Anspruch auf die Verknüpfung geisteswissenschaftlicher und technischer Disziplinen direkt verwirklichte. Dazu trugen die damals noch neuen und in gewissem Sinne revolutionären Ideen der Informationstheorie und der Kybernetik wesentlich bei. Diese Theorien wurden als Brücken zwischen den Wissenschaften aufgefasst, weil sie sich als nicht nur auf technische, sondern auch auf z.B. biologische, wirtschaftliche, gesellschaftliche Probleme anwendbar erwiesen. Unter diesem Blickwinkel sind die vielen am Lehrgebiet durchgeführten Untersuchungen zur Wahrnehmung musikalischer und sprachlicher Information zu sehen, deren Ergebnisse zu einem gewissen Teil auch der experimentellen Musik zugute kamen.

Das Fachgebiet mit seinem Studio war zugleich in die damals ebenfalls neue Tonmeisterausbildung eingebunden, die die Technische Universität seither gemeinsam mit der Hochschule der Künste - damals noch Hochschule für Musik - durchführt.

Doch zurück zu meinen Anfängen im Studio. Wir jungen Studenten waren damals viel zu schüchtern, als dass wir uns an die "alten Herren" und deren Assistenten mit viel Fragen herangetraut hätten. Nach dem Vordiplom, als angehende Diplomingenieure - cand. ing' s - wurden wir schon eher akzeptiert.

Den Umgang mit den Studioeinrichtungen mussten wir allerdings mehr durch Hinschauen lernen; hin und wieder durften wir einmal einfache Handreichungen leisten. Meine ersten Sporen und damit auch mehr Vertrauen in meine Fähigkeiten, elektroakustische Apparaturen selbst zu bedienen, verdiente ich mir bei der Lösung der Aufgabe, für das damals (1959/60) entstehende "Universalmischpult" den Stereo-Aussteuerungsmesser zu bauen. Das Mischpult (8 auf 4) wurde aus geschenkten und geschnorrten Bauteilen unter vollständiger Regie der damals am Institut tätigen Studenten gebaut - natürlich freiwillig und ohne Bezahlung.

Kurz nach der Fertigstellung des Mischpults steigerten sich die Aktivitäten des Studios, da die Effektivität nun um vieles größer war. Prof. Winckel konnte Boris Blacher für die Arbeit des Studios interessieren und für einen Lehrauftrag für experimentelle Musik an der TU gewinnen. Blacher brachte regelmäßig Gäste in seine Lehrveranstaltungen mit, und es ergaben sich viele spannende und weitreichende Diskussionen unter allen Anwesenden. Im Rahmen dieser sehr frei strukturierten Stunden wurden die Experimente, die den musikalischen Ideen entsprangen, möglichst sofort in klingendes Material umgesetzt, wenn die technischen Einrichtungen dies zuließen. Schwierige Experimente, die den relativ bescheidenen Gerätepark besonders beanspruchten, wurden von einem Termin zum nächsten verwirklicht. Es entstanden natürlich dabei keine Kompositionen; es war mehr ein sich Herantasten an die Möglichkeiten der Technik und das Sammeln von Erfahrungen, mit dem entstehenden Klangmaterial umzugehen.

Unter den Gästen dieser Veranstaltungen war regelmäßig Heinz-Friedrich Hartig, der die Gelegenheit ergriff, seine Studio-Oper "Escorial" mit elektronischen Parts zu realisieren. Die Klänge wurden von Dieter Braschoß und mir mit den Methoden der musique concrète erzeugt, d.h. sie entstanden aus realen Klängen, Geräuschen und Magnetbandmanipulationen. Die Aufführung fand im Jahre 1961 in der Akademie der Künste statt.

Das Jahr 1961 war insofern ein Markstein in der Entwicklung des TU-Studios, weil es zum ersten Male fest angestelltes Personal gab. Der Tonmeister Rüdiger Rüfer und ich als Assistent am Lehrstuhl für Musikwissenschaft - damals von H. H. Stuckenschmidt geleitet - konnten regelmäßig Arbeitszeit in Vorhaben der experimentellen Musik investieren. In diesem Jahr wurde der Arbeitskreis für Elektronische Musik (AfEM) gegründet, dem Boris Blacher, Fritz Winckel, Rüdiger Rüfer und ich angehörten.

Die Aufgabe, musikalisch brauchbares Klangmaterial zu erzeugen, war in dieser Zeit ausgesprochen abenteuerlich. Die im Studio vorhandenen Messgeräte für elektronische Nachrichtentechnik waren nur sehr begrenzt dafür geeignet. Ihre Variationsmöglichkeiten waren auf die technischen Belange abgestimmt. Mit vielen Tricks und großem Improvisationsaufwand wurden Klänge realisiert; auch vor richtigen Dreckeffekten, wie Röhrenrauschen und -klingen, Störungen aus dem Stromnetz, die damals in den Röhrenverstärkern sehr häufig waren, wurde nicht zurückgeschreckt, natürlich mit der Gefahr, dass ein Effekt sich später nicht wieder einstellen wollte. Ich erinnere mich, dass wir oft den alle 12 Sekunden umlaufenden Radarstrahl des Flughafens Tempelhof als sirrendes Geräusch aufnehmen konnten. Dabei zeigte Blacher viel Verständnis für die technischen Probleme und war immer wieder bereit, gefundene Lösungen in seine kompositorischen Konzepte einzubauen. Diese ständige Rückkopplung des Könnens aller Beteiligten war ein besonderes Kennzeichen der Teamarbeit des AfEM. Als höchst farbenreiches und dynamisch bewegtes Ausgangsmaterial wurde Sprache sehr gern verwendet. Die Anregungen kamen von Stockhausens "Gesang der Jünglinge", Luciano Berios "Ommagio a Joyce", Henk Badings "Dialoge für Mensch und Maschine" und anderen, damals berühmten Kompositionen. Manche dieser Experimente waren auch mit der damals in Gang kommenden Sprachsignalverarbeitung verbunden, mit der das Ziel verfolgt wurde, Sprache zu synthetisieren und spracherkennende Automaten zu bauen.

Für eine 1962 von Hans Heinz Stuckenschmidt durchgeführte Serie von Konzerten mit experimenteller Musik in der Berliner Kongresshalle, die (zur besten Sendezeit!) live vom SFB-Fernsehen ausgestrahlt wurde, lieferte Blacher einige im Studio entstandene Beiträge mit Sprache als Ausgangsmaterial, darunter "Negro Spiritual" aus dem bekannten Text "Nobody knows the trouble I've seen". Die Stimme dafür lieh Vera Little, die im Konzert auch den live-Part sang, begleitet von den verfremdeten Klängen ihrer Stimme aus den vier Raumecken mit Vierkanaltechnik.

1963 - zum 60. Geburtstag Blachers - produzierte das AfEM-Team, natürlich ohne Blacher, die Studie "Persischer Sinnspruch", in der sogenannte stochastische Sprache verwendet wurde. Dabei wurde das Tonband mit der Stimme eines Sprechers in statistischer Weise zerschnitten und nach gehöriger Mischung wieder zusammengeklebt, gefiltert, verformt und mehrfach übereinander geschichtet. Stochastische Sprache wurde damals häufig verwendet, um Wahrnehmungsprozesse beim Hören von Sprache, insbesondere bei der Wahrnehmung der Sprechmelodie, zu untersuchen. Das Ergebnis war nicht sonderlich berauschend, und außerhalb der Seminare hat es keine Präsentationen in der Öffentlichkeit gegeben.

Als es im Jahre 1964 den Amerikanern gelang, einen Menschen - Major Cooper - in die Umlaufbahn um die Erde zu schießen, nahm Blacher in seiner an diesem Tage stattfindenden Lehrveranstaltung das Ereignis zum Anlass, die Schlagzeilen der "BZ" für eine Sprachkomposition zu benutzen (Originalton: "verbraten"). Die zufällig von ihm in die Veranstaltung mitgebrachten Schauspieler Marianne Hoppe und Wolfgang Kühne wurden dazu "verdonnert", den Text ad hoc für eine Aufnahme ins Mikrophon zu sprechen. In der daraus entstandenen vierkanaligen Raumkomposition "Der Astronaut" wurden das Kreisen im All, die Geräusche der Nachrichtenübertragung aus dem Stimmmaterial thematisiert.

Mit "spacio vocale et instrumentale" wurden Versuche unternommen, die Singstimme mit Instrumentenklängen zu verschmelzen. Ernst Häfligers Stimme wurde zu Akkorden geschichtet und als Klangfarbenmelodie einer Violine, gespielt von Christiane Edinger, unterlegt. "Der Astronaut" und "spacio" wurden in Zürich uraufgeführt.

1965 war das Jahr der Arbeit an Blachers Oper "Zwischenfälle bei einer Notlandung", für die Heinz v. Cramer das Libretto schrieb und in der es um eine Begegnung der Passagiere eines notgelandeten Jets mit einer unheimlichen Computerwelt geht. Die Simulation von Maschinenstimmen und Stimmen der Angst stellte große Anforderungen an den Tonmeister Rüfer. Als Material wurden die Stimmen verschiedener Schauspieler benutzt, auch die Häfliger-Akkorde fanden neue Verwendung, wie es überhaupt sehr oft Blachers Methode war, bereits früher gewonnenes Material in neuer klanglicher Umgebung erneut zum Klingen zu bringen. In einem "Maschinensturm" genannten Bild der Oper agieren auf der Bühne ausschließlich mechanische Objekte zu den elektronischen Klängen. Die Oper wurde Anfang 1966 in der Staatsoper Hamburg uraufgeführt.

Weitere Sprachkompositionen, die im Studio entstanden, waren "Glück, Lust, Torheit", in der der Schlussmonolog des Mephistopheles aus "Faust II" - gesprochen von Ernst Schröder - verarbeitet wurde, und "Personnage" von Makoto Shinohara. Das "Duodram" "Ariadne" nach dem Text von Georg Benda reizte Blacher als Sujet zur Vertonung mit elektronischen Mitteln, um einen extremen Kontrast ästhetischer Ebenen herzustellen, der sich durch die heute sehr fremd wirkende Diktion des gesprochenen Textes und die spröde Struktur der elektronischen Klänge einstellen sollte. Für diese Klänge schrieb Blacher eine vollständig ausgearbeitete Partitur, wofür er eine eigene Schreibweise benutzte, um die Tonhöhen festzulegen, und Millimeterpapier für die Fixierung des zeitlichen Ablaufs verwendete. Nur an wenigen Stellen wird in "Ariadne" die menschliche Stimme elektronisch umgeformt, um extreme Stimmungslagen zu charakterisieren, um auf diese Weise einen Aspekt des Chors der griechischen Tragödie aufzugreifen.

Mit dem Tod Blachers im Jahre 1975 endeten die regelmäßigen Versuche, Sprache und menschliche Laute für Kompositionen elektronischer Musik nutzbar zu machen. Die - nicht öffentlich aufgeführte - Komposition "Alabama", realisiert von Rüdiger Rüfer, entstand aus den Versuchen im Rahmen meiner Doktorarbeit zur elektronischen Synthese von Sprache aus vorprogrammierten Impulsen.

Mit dem Tod von Boris Blacher löste sich auch der Arbeitskreis für Elektronische Musik auf. Unter Folkmar Hein als neuem Tonmeister des Studios öffnete sich das Studio stärker nach außen, und seither haben in ihm viele Komponisten, meist als Gäste des DAAD, ihre Ideen verwirklichen können.

 


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