Donnerstag, 6.3.1986
                                                                                                                 18.00 - 19.00 Uhr
                                                                                                                 Ackerstraße

Produktionen
des Elektronischen Studios der Hochschule für Musik, Köln
und des Sweelinck-Konservatoriums, Amsterdam

Daniel Chorzempa Sonett (1978)
vierspuriges Tonband (HfM Köln)
Luis Mucillo Au de l a des portes d'ivoire (1984)
nach Texten von Ch. Baudelaire, J. Verne und G. de Nerval. Vierspuriges Tonband (HfM Köln) Klangliche Realisation: Marcel Schmidt
Ricardo Mandolini Poema reiterado (1983)
vierspuriges Tonband (HfM Köln)
***
Cecile Ore Im-Mobile (1984)
Video (Amsterdam)
Margriet Hoenderdos/ Frederike Jochems Ballade op en ballustrade (1984)
Video (Amsterdam)

DANIEL CHORZEMPA: Sonett

"Sonett" ist eine Komposition, die ausschließlich aus Sprachklängen besteht. Da Sprachklänge das musikalische Material selbst darstellen, entsteht kein Dualismus mehr zwischen Klang und Wort, d.h. Sprache wird nicht "vertont", sondern ist als klanglicher Vorgang die Musik selbst. Als sprachliche und daher auch klangliche Basis dienen Sonette von Shakespeare, Opitz, Ronsard und Michelangelo, die in ihrer Originalsprache auf Tonband gesprochen wurden. Durch studiotechnische Prozesse sind Vokale und Konsonanten als Sprachklänge gestaltet worden, darüber hinaus werden Silben, Worte, Phrasen und schließlich ganze Texte in der Komposition verwendet. Die jeder Sprache eigene Artikulation, der Sprachrhythmus, wurde durch besondere Spannungssteuerungstechniken in musikalisch-rhythmische Verläufe umgesetzt. Die Sprachelemente sind linguistisch und textstatistisch nach den Regeln der Morphologie und Phonologie geordnet. Aus der jeder Sprache eigenen Semantik wurden unterschiedliche Grade von Verständlichkeit abgeleitet. Nach linguistischen Gesetzen richtet sich auch die Anordnung der vier Hauptteile der Komposition: die Entwicklung vollzieht sich zu Anfang von kleinsten Elementen in verhältnismäßig langen Dauern (z.B. Explosivlauten (p, t, k), Zisch- und Reibelauten) bis hin zu den längsten Elementen in kürzesten Dauern (Vokalen, an sich stationäre Klänge, die in kürzester Sprachartikulation rhythmisiert werden). Aus dem geformten Klangstrom tauchen immer wieder einzelne Worte und Sätze auf: sie bürgen für den Zusammenhang von Musik und Sprache, da die Herkunft der Wort-gewonnenen Klänge nicht unbedingt erkennbar ist.

Kunsthistorische Schlussbemerkung: unter dem Einfluss des Neoplatonismus entstanden die vier Sonette zu einer Zeit, als Europa endgültig seinen Anspruch auf jede Form von Einheit verlor. Durch die allegorische Sprache der Liebesgedichte wird jedoch die Sehnsucht nach Einheit symbolisiert. Diese künstlerische Grundhaltung diente als Anfangspunkt bei der kompositorischen Beschäftigung mit den Texten.

Die technische Realisierung erfolgte im Studio der HfM Köln mit der dankenswerten Unterstützung von Marcel Schmidt.

 

RICARDO MANDOLINI: Poema Reiterado

Das Stück POEMA REITERADO basiert auf meinem Gedicht PALABRAS (Worte) aus dem Jahre 1972:

 

PALABRAS

WORTE (frei übersetzt)

 

 

palabras

worte

náufragos y naufragios

schiffbrüche und schiffbrüchige

decir uns palabra

beim aussprechen eines wortes

es tornarse un navio

wird man zum schiff,

que se aleja hacia el mundo

das sich zur welt hin entfernt.

 

 

la palabra es al mundo

das wort ist zur welt

lo que el ojo deI vigia a tierra

so wie das auge des wächters zur erde

una distancia

eine entfernung

eso es lo ue siente el poeta

so empfindet der poet

desde su barca fantástica

indem er segelt und begreift

a medida que navega y comprende

dass es für ihn keine häfen mehr

que ya no habrá puertos para él

geben wird

 

 

porque cruzar el charco

denn das überqueren jener pfütze

que lo separa de las cosas

die ihn von den gegenständen trennt

seria tan dificil

wäre so heikel

corno cruzar el océano que lo

wie das überqueren jenes ozeans

separa de si mismo.

der ihn von sich selbst fernhält.

 

 

 

 

Vom rein formalen Gesichtspunkt aus gesehen, ist POEMA REITERADO in 5 Teile gegliedert:

Der 1. besteht aus dem rezitierten Text, mit Begleitung.

Der 2. ist ein Übergangsteil, in dem musikalische Figuren auftreten, die einerseits die Verse akustisch nachahmen, andererseits von diesen bewusst unabhängig bleiben.

Im 3. und 4. Teil ist die musikalische Abhandlung ein Kommentar zum Assoziationsinhalt der Verse "una distancia", "eso es lo que siente el poeta" und "la palabra es al mundo".

Der 5. Teil stellt die Pause als kompositorisches Erneuerungselement dar und bildet allmählich die Sprache und ihre Bedeutung nach.

Das ganze Stück kann außerdem als ein stufenmäßiges Spiel vom Verlieren und Wiederfinden der semantischen Bedeutung des genannten Gedichtes betrachtet werden.

Ich möchte mich bei Leonardo Martinez für seine Mitwirkung bedanken, dessen Stimme (1980 aufgenommen) das "Rohmaterial" für das vorliegende Stück lieferte. Ebenfalls danke ich dem Phonetischen Institut der Universität Köln für die Unterstützung bei meiner Forschungsarbeit im Bereich der Formantanalyse.

Die technische Realisierung erfolgte im Studio der HfM Köln mit der dankenswerten Unterstützung von Marcel Schmidt.

Ricardo Mandolini


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                                                                                                                 Donnerstag, 6.3.1986
                                                                                                                 20.00 Uhr
                                                                                                                 22.15 Uhr
                                                                                                                 Kino Arsenal

Film
20.00 Uhr
"Dsiga Wertow: Pionier der Geräuschkunst"
Ein Vortrag mit Musikbeispielen von Juan Allende-Blin
anschließend:

"Die Donbass-Sinfonie (Enthusiamus)" (UdSSR 1930)
(Simfonija Donbassa (Entusiam))
Regie: Dsiga Wertow
Musik: N. Timofejew
***
22.15 Uhr
"Der Mann mit der Kamera" (UdSSR 1929)
(Tschelowjek s Kinoapparatom)
Regie: Dsiga Wertow
mit Live-Improvisation
Andy Guhl, Norbert Möslang
"Alltags-Elektronik"


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