INVENTIONEN'86                                                                                              Dienstag, 4.3.1986
Konzert aus internationalen Studios II                                                                  18:00 Uhr
TU-Gebäude Ackerstraße


Produktionen u.a. aus den Studios der GMEB, Bourges
und der Simon Fraser University Vancouver

Barry Truax The Blind Man (1979)
zweispuriges Tonband / (GMEB)
Hildegard Westerkam Whisper Study (1978/79)
zweispuriges Tonband / (SFU)
John Oswald Burroughs' Tapes
zweispuriges Tonband / (SFU)
Michael Grambo Bleeding Poem
zweispuriges Tonband / (SFU)
***
Georg Katzer Aide-memoire (Sieben Alpträume aus der tausendjährigen Nacht)
zweispuriges Tonband

 

BARRY TRUAX: The Blind Man

"The Blind Man" ist die Umsetzung eines Gedichtes von Norbert Ruebsaat. Das Grundmaterial sind eine Lesung des Gedichtes und eine Improvisation über diesen Text vom Autor. Zusätzlich wurden Umweltklänge aus der "World Soundscape Project"-Bibliothek benutzt, und hier vor allem metallische Klänge: Die Glocken des Salzburger Doms und des Storkyrkan in Stockholm, dazu eine Reihe von Schlössern und schweren Türen der Gewölbe der Staatsbibliothek in Wien.
Das Gedicht wird auf drei Ebenen hörbar. Zuerst die originale Lesung, die in fünf Sektionen über das Stück verteilt ist. Dazu kommen rhythmische Variationen, die auf den Improvisationen des Autors basieren. Als letztes treten abstrakte Klänge hinzu, die durch die Transformation bestimmter Sprachelemente wie Silben, Konsonanten und Vokale gewonnen wurden.
Die Zusammenarbeit von Komponist und Autor, kurz nach ihrer gemeinsamen Arbeit an dem längeren Stück "Love Songs" für Stimme und Tonband, spiegelt das Interesse an der Grenzschicht von Sprache und Klang, jene Grenzschicht, wo Wörter reiner Klang werden und umgekehrt. "Die Musik wird", so der Autor, "zur Darstellung des Textes, ein kleines Spiel, eine Bühne, die für ihn errichtet wurde. Und wenn wir unsere Plätze eingenommen haben und der Vorhang sich öffnet, sind wir nicht überrascht, wenn die Masken als Wörter erscheinen, wenn sie Wörter sind, Wörter, die in das Scheinwerferlicht treten, Klänge und Silben, die tanzen. Getrennt und wieder vereint. Das Gedicht hat uns einen Besuch abgestattet. Und siehe, das Gedicht zeigt auf den blinden Mann dort".
"The Blind Man" wurde in Auftrag gegeben und realisiert von den Studios der GMEB. in Bourges, Frankreich. Der Komponist erhielt eine Reisestipendium des Canada Council.

The blind man --
the wind is invisible,
it does not want to know;
already it has come
and is leaving again
have a sigh,
the wind
will not resolve this problem
touch the frozen tree
(the wind is careful as a locksmith)
the wind has come and gone
and he will come again like a blind man
tapping his cane

a blind man tapping his cane
arriving to pick up his load
of pollen or birds,
his bagful of whistles and scents
(his catcalls)
the blind man
(his currency of leaves)
and lock them up in a secret place
where no one has ever heard
or seen from
the wind
again



HILDEGARD WESTERKAMP : Whisper Study

"Whisper Study" basiert auf dem Satz "Wenn es nichts zu hören gibt, ist das Gehör am aufmerksamsten" (Kirpal Sind "Naam" oder "Wort"). Alle Klänge in diesem Stück sind mit einer Ausnahme aus meiner Stimme gewonnen, die eben jenen Satz und das Wort "silence" spricht.
"Whisper Study" begann als eine Übung mit den grundlegenden Bandtechniken des Studios und benutzte die flüsternde Stimme als Ausgangsmaterial. Je länger ich aber mit diesem ruhigen Material arbeitete, desto stärker wurde mein Interesse, ein Stück über die Stille, über das Hören und die akustische Imagination zu komponieren. Ich wollte herausfinden, wo der Klang aufhört und das Bild anfängt.
Das Gedicht "When there is no sound" von Norbert Ruebsaat, das von "Whisper Study" angeregt wurde, ist dem letzten Teil des Stückes angefügt. In dieser Version wird das Gedicht von mir selber gesprochen. Die es umgebende Klanglandschaft aus Schritten im Schnee und Eiszapfen entstand für meine Radioserie "Soundwalking", die 1978/79 für das "Vancouver Co-operative Radio" hergestellt worden war.
Hildegard Westerkamp


MICHAEL GRAMBO: Bleeding Poem

Im Zentrum von "Bleeding Poem" steht ein Gedicht gleichen Namens des an der Simon Fraser University tätigen Autors Lionel Kearns, das die Erfahrungen des Dichters während einer bizarren Feier auf einer mexikanischen Insel beschreibt. Die Insel wird von der kolossalen Statue des Lokalhelden Carlos Morelos überragt, und die Feier ist eine Art "Halloween" für die Seelen der Toten. Alles Material, das in dem Stück benutzt wird, stammt aus einer Lesung des Gedichtes durch den Autor.

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INVENTIONEN'86                                                                                              Dienstag, 4.3.1986
Konzert mit Sho Myo (Japan)                                                                             20:00 Uhr
Ackerstraße – Kirche St. Sebastian


SHO-MYO

Isao Matsushita Ao-No-Haikei (1986) (UA)
für Sho-Myo und Schlagzeug
Richard Teitelbaum Iro-Wa-Nihoedo (1986) (UA)
für Sho-Myo
***
Maki Ishii A-Bi-Ra-Un-Ken, op. 61b (1984) (EA)
für Sho-Myo und Schlagzeug
Masanori Fujita Ju-Ju-Shin (1986) (UA)
für Sho-Myo

Karyobinga Sho-Myo-Gruppe (Shingon-Sekte, Buzan-Schule), Tokio
Sho-Myo-Gesang
Joachim Winkler, Kyoichi Sano, Isao Matsushita, Kei Ishii, Masanori Fujita
Schlagzeug
Leitung: Maki Ishii

Sho-Myo

Die Vokalmusik, die bei buddhistischen Zeremonien Verwendung findet, heißt sho-myo, Musik wie Religion haben ihre Wurzeln in Indien und sind nordwärts entlang der Seidenstraße nach China und später nach Korea und Japan gelangt. Das berühmteste Dokument für ihren Gebrauch sind die Aufzeichnungen zum Fest der Augenöffnung des großen Buddhas von Todaiji in Nara aus dem Jahr 752. Es wurden Musik und Tänze aus allen Regionen Ostasien aufgeführt und ein buddhistischer Gottesdienst in chinesischer Sprache "shika hoyo" (vierteiliger Gottesdienst) zelebriert, der die Stücke "Bai", "Sange", "Bonnon " und "Shakujo" umfasste. Am Anfang des 9. Jahrhunderts wurde der esoterische Buddhismus "Shingon" von Kobo Daishi Kukai in Japan verbreitet. Zusammen mit ihm wurden die dieser Lehre eigenen chinesischen und Sanskrit-Hymnen (der esoterisch "shomyo") eingeführt. In der Mitte des selben Jahrhunderts führte der Tendai-Priester Ennin den sho-myo der Tendai und der Jodo (exoterischer shomyo) ein. Im zehnten Jahrhundert wurde diese Musik allmählich der japanischen Kultur angepasst. Es gab eine große Reihe von volkstümlichen Vokalmusikkompositionen, einige eher hymnenartig ("Wasan", "Kyoke"; "Kunkada"), andere eher rezitativisch ("Koshiki"). In der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts war das heutige traditionelle Repertoire abgeschlossen.
Die Vokalmusik des Buddhismus hieß anfangs "bombai", wurde später aber unter dem Namen sho-myo bekannt. Bei diesem Wort handelt es sich um die japanische Aussprache der chinesischen Übersetzung des Sanskrit-Wortes "sabda-vidya", das eines der fünf klassischen Felder des Sanskrit-Studiums bezeichnete. Der heutige sho-myo in Japan kann in drei Spielarten eingeteilt werden: Shingon sho-myo, Tendai sho-myo und Nara sho-myo.
Shingon sho-myo dient zum gesungenen Lobpreis der verschiedenen Buddhas, Bodhisattvas u.ä. des Mandalas als eines geheimen Ortes der Anbetung. Der "doshi", oder auch Leiter der Zeremonie, ist der führende Solo-Sänger, während den anderen Zelebranten weniger wichtige Aufgaben zufallen.

Sho Myo 1


Shingon sho-myo wurde am Beginn des 9. Jahrhunderts von Kukai nach Japan gebracht. Seine volle Ausprägung erhielt er im 10. Jahrhundert durch den Priester Kanjo. Den Höhepunkt der Verbreitung genoss er vom 12. bis zum 14. Jahrhundert. Es gab drei verschiedene Schulen des Shingon sho-myo - die Soo-Schule, die Daigo-Schule und die Nanzan-shin-Schule. Heute jedoch werden nur noch die Nanzan-shin-Schule mit zwei ihrer Untergruppen, Chizan und Buzan sho-myo, überliefert.
Die Notation des sho-myo ist neumenartig. Sie wird mit verschiedenen Namen "hakase", "bokufu" oder einfach "fu" genannt. Die Notation, die beim heutigen Shingon sho-myo gebräuchlich ist, wurde um 1270 von dem Priester Kakui entwickelt und trägt die Bezeichnung "goin-bakase" (fünf-Noten-Notation).
Die Theorie des sho-myo hängt - wie die der anderen alten japanischen Musikgattung "gagaku" - von chinesischen Vorbildern ab. Das Tonsystem gründet auf einer chromatischen Leiter, aus der Skalen mit fünf Haupt- und zwei Nebentönen abgeleitet werden. Es gibt fünf Modi und drei melodische Systeme, die "ryo", "ritsu" und "chukyoku" genannt werden. Dazu kommt ein System namens "hennon", um innerhalb eines Stückes von einem Melodiesystem in ein anderes zu wechseln.

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ISAO MATSUSHITA:
Hintergrund des Blaus (1985/86)
für sho-myo und Schlagzeug

Dieser Komposition liegen die Texte von fünf Gedichten aus der Gedichtsammlung "Aoi" (Blau) des japanischen surrealistischen Dichters Katsue Kitazono zugrunde.
In der charakteristischen Gestaltungsweise des Dichters, aus anorganischen Aneinanderreihungen von Worten einen organischen Zeitablauf herbeizuführen, sehe ich Parallelen zur buddhistischen Auffassung des Vergänglichen, des Unbeständigen der Welt.
Drei Solisten, die in der Mitte der Bühne stehen, sind den drei Kategorien "hoch, mittel, tief" zugeordnet, entsprechend dem buddhistischen Begriff san-mitsu, d.i. die Einheit von Körper, Wort, Herz.
Im Anfangsteil verkörpern der 'stimm-hafte' Vortrag der Solisten und der 'stimm-lose' Vortrag des Chors die Welten des "Seins" und des "Nichts".
Das erste Gedicht der hier ausgewählten Reihe "optical poems" entspricht dem bai des traditionellen sho-myo. Bei dem vom Chor vorgetragenen zweiten wie auch vierten Gedicht der "optical poems" wurde der visuell wahrnehmbare Verlauf der Gedichte in musikalischen Rhythmus umgewandelt.
Das dritte der "optical poems" entspricht als Sologesang dem sange (Fußnote) einer sho-myo-Liturgie, und das letzte Gedicht dieser Auswahl, "Hintergrund des Blau", das mit den drei Solisten im Mittelpunkt vorgetragen wird, entspricht dem hyohyaku105 oben. (Fußnote)
Das Schlagzeug in der Hintergrundmitte der Bühne verkörpert zusammen mit der Solo gruppe und den beiden Chorgruppen das in den Gedichten häufig vorkommende "Viereck". Dieses nur aus Metallinstrumenten zusammengesetzte Schlagzeug soll gegenüber der sho-myo-Gruppe weitestgehend unabhängig spielen und so die Welt des "Nichts" andeuten.


Sho Myo 2


"Optical poem"

das Viereck                         das Viereck
des Quarzes                        des Quarzes
ist                                         ist
das Viereck                         das Viereck
des Winds                           des Leids

das Viereck                         das Viereck
des Quarzes                        des Quarzes
ist                                         ist
das Viereck                         das Viereck
des Wassers                        der Stille

"Optical poem"

Explosion
im Glas
auf dem
runden Tisch
des Winds
in der
Zeit des Winds
in der
in der
Leere des Winds.


Sho Myo 3


"Optical poem"
Das Viereck                    trifft
der                                  den blauen Kegel
Hüften aus Glas             des
                                        Winds
die Frau                          in
mit den                           meinem bleiernen
stählernen Haaren        Kopf
im
Kegel
des
blauen Winds

 

 

 

"Optical poem"

Im Kegel                         im Viereck
des Sands                       des Gelb
des Geräuschs                des Grün
des Windes                    des Blau
des Wassers                   des Schwarz
im Viereck                      das Blau
des Geräuschs                das Schwarz
des Windes                    das Grün
des Wassers                   das Gelb
des Sands                       der Rauchspirale


Sho Myo 4


"Der Hintergrund des Blau"
Der Wintertag
lässt die Straßen der Wolkenkratzer
wie den Urstein des Quarzes
leuchten
einst
schufen Menschen
diese Straßen
aus Metall und Glas
bald darauf
schufen sie Nachtbars
schufen sie Kabaretts
schufen sie Saunas
schufen sie Love-Hotels
schufen
Brutstätten der Intrigen
Lüge
Betrug
und Verbrechen
erschöpft
elend
gequält
gepeinigt
verschmutzt
diese
in den strahlenden
Ruinen
der Seele
umherschweifenden
Menschen
waren einsam
wie ein einzelnes Haar


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RICHARD TEITELBAUM: Iro Wa Nihoedo (obwohl die Farben duften … )

Text und Titel leiten sich von einem der berühmtesten und ungewöhnlichsten Gedichte der japanischen Sprache her. Es wurde der Legende zufolge von Kukai (Kobo Daishi), dem Gründer des Shingon-Buddhismus, zugeschrieben, vor rund 1.000 Jahren um das neue Hiragana-Alphabet zu demonstrieren. Es weist die bemerkenswerte Eigenheit auf, dass alle 47 Silben des Hiragana-Alphabets genau einmal auftauchen. Deshalb wurde es von Generationen japanischer Schulkinder benutzt, um ihr "ABC" (i-ro-ha) zu memorieren. Es ist stark vom Buddhismus geprägt und, wenn nicht von Kukai selber, so doch sehr wahrscheinlich von einem seiner Nachfolger verfasst worden. Obgleich die Sprache sehr blumig und kaum zu übersetzen ist, sei hier eine grobe Umschreibung des Inhalts versucht:
Obwohl die Farben (Blumen) duften
werden sie vergehen
In unserer Welt
ist nichts von Dauer
Jeden Tag kreuze ich den hohen Berg
der Illusionen dieses Lebens
Es wird keine seichten Träume
keine Vergiftungen mehr geben
Musikalisch habe ich versucht, meine Komposition entlang der Linien des traditionellen Shingon-sho-myo-Gesanges zu gestalten. Dieser Gesang besteht aus rund sechzig melodischen Formeln. Eine kleine Untergruppe aus 10 bis 15 Formeln wird dazu benutzt, jedes vorkommende Stück zu bilden. Die Notation benutzt neumenartige Symbole, wobei jedes Symbol eine einzelne Note bezeichnet. Die Symbole können auch kombiniert werden, um ausgedehntere melismatische Bildungen zu fixieren. Es handelt sich um die graphische Repräsentation der ornamental ausgeschmückten Linien mit ihren mikrotonalen Intervallen und jener subtilen Nuancierung, die so typisch für den Shingon-sho-myo ist. Eine Singweise, die mit der westlichen Notation nie beschrieben werden könnte.
Ich habe Gruppen dieser Neumen (und natürlich auch die melodischen Bildungen, die von ihnen repräsentiert werden) genommen und versucht, neue "sho-myos" zu komponieren, die aus den alten Strukturen gewonnen sind, diese aber auch erweitern. Das Stück lehnt sich an die traditionelle Nika Hoyo-Zeremonie an. Die Eingangssektion basiert auf einem Tengu (Lobeshymne) "shichi no bongo" (der Sanskrit-Ausdruck für die vier Weisheiten), der Mittelteil auf einem Bai (besänftigender Gesang), dem Schluss liegt der berühmte "Sange" (Gesang der fallenden Blumen), bei dessen Ausführung innerhalb der Zeremonie Blütenblätter gestreut werden, zugrunde.
Unter meinen kompositorischen Mitteln finden sich auch Zufallsoperationen nach dem I Ging, um Originalsequenzen von Neumen zu erhalten, die dann bestimmten Modifikationen unterworfen werden. Hierbei stand mit Herr Kojun Arai mit stilistischem Rat zur Seite. In der Partitur finden sich auch freiere, graphisch notierte Partien, die aus der traditionellen Hakase Neumenschrift gewonnen wurden. Diese dienen als Grundlage für Improvisationen (eine Technik, die dem sho-myo fremd ist).
Mein besonderer Dank gilt Herrn Kojun für die unermüdliche Geduld, mit der er mich während des ganzen Aufenthaltes in Japan, innerhalb dessen die Komposition vorbereitet wurde, geleitet hat. Ohne ihn wäre sie nie zustande gekommen. Mein Dank gilt auch dem Asian Cultural Centre, das meine Reise nach Japan so freundlich unterstützte.
Richard Teitelbaum


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MAKI ISHII: A-Bi-Ra-Un-Ken für sho-myo und Schlagzeug (1984) op. 61 b

"A-Bi-Ra-Un-Ken" ist ein viersätziges Werk und stellt eine Auswahl aus meinen je dreizehn-sätzigen zweistündigen Kompositionen "Kaeru no sho-myo" (Frosch sho-myo) und "Zoku Kaeru no sho-myo" (2. Frosch sho-myo) dar. "Kaeru no sho-myo" könnte als eine Art Oratorium betrachtet werden, das um die Vokalklänge des sho-myo Gesanges, der von einer Reihe buddhistischer Priester ausgeführt wird, zentriert ist. Der Text entstammt der einzigartigen Dichtung des berühmten Dichters Shimpei Kusano, die in ihrer stilistischen Bandbreite von seinem "Kaeru no sho-myo", in dem die Froschsprache nachgeahmt wird, bis zu "Blue zinta ", einem Gedicht, das Zivilisationskritik übt, reicht.
Shimpei Kusano wurde 1903 geboren und studierte an den Universitäten von Tokio und Guandong (China). Von 1925 an wurde sein dichterischer Ausdruck zugleich primitiv und komplex, geprägt von fauvistischen wie von surrealistischen Elementen, die ihn frei dafür machten, Froschklänge nachzuahmen.
Vom Musikalischen her handelt es sich um eine Vokalkomposition, die sich mit den zeremoniellen Spielarten des sho-myo kyodate und koshiki, in denen eine einzigartige Klangwelt entwickelt wird, befasst. Ihr Ziel ist eine Kombination der verschiedenen Gesangs- und Rezitationspraktiken des traditionellen sho-myo mit modernen Techniken. Die Schlagzeuggruppe setzt sich eigentlich nur aus solchen Instrumenten zusammen, die im buddhistischen Gottesdienst Verwendung finden. In diesem Konzert jedoch wurden verschiedene chinesische Instrumente, wie blanshong (japanisch: hensho (gestimmte Glocken)) und fangxlang (japanisch: hokyo (gestimmte Steine)), die diskrete Tonhöhen hervorbringen, durch Glockenspiel, antike Zimbeln und ähnliches ersetzt.
Der Satz "A-Bi--Ra-Un-Ken" ist eine Anrufungsformel, die in der Praxis des esoterischen Buddhismus im Gebet zu Dainichi nyorai (Sanskrit: Mahavairocana tathagata (großer, erleuchtender Buddha)), der Zentralfigur des esoterischen Buddhismus, benutzt wird. Es heißt, diese fünf Silben enthielten die Essenz alles Lebenden.
Der erste Satz besteht aus der Überlagerung des sho-myo Stückes Taiyo im kyodate-Stiel und Kusanos "Kaeru no sho-myo", So wie der Buddha Dainichi nyorai in der Mitte des Mandalas des esoterischen Buddhismus beschrieben wird, so stehen die fünf Silben "A-Bi-Ra-Un-Ken " einem Mantra ähnlich im Zentrum der Froschsprache.
Der zweite Satz "Blue zinta" beschreibt die Zukunft der Erde dreihundert Jahre nach dem Ende des Vietnam-Krieges. Danach ist die Bevölkerung durch eine Reihe von Kriegen, die auf den Vietnam-Krieg folgten, stark zurückgegangen, und die Frösche haben die Herrschaft auf der Erde übernommen. Die Erde selbst ist kalt, die Plätze der Städte sind mit Asche bedeckt, schwarzer Nebel zieht durch die Straßen. Inmitten dieser Szenerie tanzen die Frösche einen Reihentanz nach einer "Zinta"-Melodie und spotten über die törichten Menschen. Musikalisch basiert dieser Satz auf den sho-myo-Stilen koshiki und rongi. Rezitation und Stimmen beschreiben die Situation, die zudem mit einem Gesang aus dem Kyodate vermischt ist. Zinta sind kleine Kapellen, die im Japan der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg weit verbreitet waren, um Besucher für den Zirkus oder zu Filmvorführungen anzulocken. Diese Musik hat für den heutigen Japaner nostalgischen Charakter.
Der dritte Satz schließt sich ohne Pause an den zweiten und ist "Daihachigatsu mangetsu no yoru no manchoji no kanki no uta" (Freudengesang auf die Vollmondnacht des achten Monats) überschrieben. Wieder bildet ein Gedicht in Froschsprache die Grundlage, und die Stimmen aller Frösche treten zu einem Cluster-artigen Gebilde zusammen. Der "Kaeru no sho-myo", der hiernach aufgeführt wird, unterscheidet sich vom melismatischen Kyodate-Stil des ersten Satzes. Es wird rhythmisch im dokyo-Stil gesungen. Zum Beschluss werden die fünf Silben "A-Bi-Ra-Un-Ken" mit lauter Stimme gerufen. Es folgt ein katsu. Diese Art Ruf oder Schrei bezeichnet eine Gemütsbewegung, die weder in Sprache noch Schrift ausgedrückt werden kann. Er wird auch dazu benutzt, Lernende der Religion zu tadeln und zu führen, oder um Worte an die Seele eines Verstorbenen zu richten, um ihn auf dem Weg in die andere Welt zu leiten.
Der vierte Satz "Yoru no ten" (Abendhimmel) gemahnt an das sho-myo Stück "Sholen kango-san". Es basiert auf dem fortschreitenden Kontrapunktieren von hohem Solo-Gesang und Rezitation. Das Gedicht hat ungefähr folgenden Inhalt:
"Der Himmel ist wie Glas aus blauem Perlmutt ... Energie des Universums … Die Bitte darum, dass die Menschheit universell sei .… Die Wirklichkeit ist unergründlich dunkel."
Die Komposition bewegt sich aus der tiefen zu einer hohen Lage, vom Chaos zur Harmonie, vom Hässlichen zur Schönheit. Sie ist eine Hymne an Dainichi nyorai durch das Medium der "Frösche" und durch die Verbindung von Religion und Kunst.

kyodate Art des buddhistischen Gottesdienstes, die um die Rezitation oder den Gesang eines sutra (jap. kyo) zentriert ist, die aber auch eine Reihe andere sho-myo Stücke, darunter auch solche im melismatischen Stil, enthalten kann.
koshiki Art des buddhistischen Gottesdienstes, die die hauptsächlich syllabische Erzählung eines koshiki, eines langen Textes über die Tugenden einer der zahlreichen buddhistischen Gottheiten, zum Inhalt hat.
Taiyo Stücke, die in verschiedenen Zeremonien benutzt werden. Sie werden in chinesischer Sprache und einem melismatischen Stil gesungen. Der Text bekräftigt die buddhistischen Glaubenssätze.
rongi Buddhistische Zeremonie, in der in stilisierter Weise die buddhistische Dogmen diskutiert werden. Hauptsächlich in einem syllabisch-narrativen Stil.
dokyo Sutra-Rezitation, bei der jeder Buchstabe des Textes einen einzelnen Schlag in schnellem Tempo erhält. Sie wird oft durch den Temposchlag eines hölzernen Schlaginstrumentes begleitet.
Shoten kango-san Chinesisch-sprachige Hymne, die die buddhistischen Schutzgottheiten preist. Melismatisch gesungen.

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MASANORI FUJITA: Ju-Ju-Shin für 15 buddhistische Mönche (1986)

"Ju+Ju-Shin " ist die verkürzte Fassung des "Himitsu-Mandara-Ju-Ju-Shin-ron", des Hauptwerks des Mönches Kukai, Begründers der buddhistischen "Shingon"-Sekte (shingon = das wahre Wort), das er 830 verfasst hat und das aus ca. 600 Themenbereiche umfassenden Aufzeichnungen herausgezogen worden ist.
Es erläutert zum einen die 10 Stufen der geistig-religiösen Entwicklung des Gläubigen im Shingon-Buddhismus und ist zugleich auch eine Art Abriss der Geschichte des Denkens jener Zeit, eine vergleichende Abhandlung, in der Kukai allgemein umfassend die um 800 in Indien, China und Japan existierenden verschiedenen Richtungen des Buddhismus, der Philosophie und des Denkens kritisch betrachtet.
Diese 10 Entwicklungsstufen sind folgendermaßen definiert:


1. Ishoteiyoshin - die Welt vor der buddhistischen Logik  
2. Gendojisai - die Immanenz der buddhistischen Logik  
3. Yodomuishin - das Erwachen des religiösen Sinns  
4. Yuiunmugashin - das Verstehen des Sich-Selbst-Vergessens  
5. Batsugoinjushin - das Ablegen der eigenen Unwissenheit  
6. Taendaijoshin - die Erlösung des Menschen vom Leiden  
7. Kakushinfushoshin - alles ist Leere, -> Nichtigkeit, Vergänglichkeit
8. Ichidomuishin - alles ist Wahrheit, -> Realität
9. Gokumujishoshin - die Überwindung der Gegensätze  
10. Himitsushogonshin - die ewige, -> grenzenlose Entfaltung


In der letzten Stufe, der Stufe 10, erfolgt schließlich die Subsumtion und Transzendierung des gesamten Geistes.
Dies ist die Entwicklung zur Welt des Mandala. Hiermit wird diagrammartig in konzentrierter Form der Weg zur Erreichung des Zustandes des satori (Erleuchtung) aller Buddhas aufgezeichnet.


formelartige Gesangsteile einer sho-myo-Liturgie

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