INVENTIONEN'85                                                                                              Sonntag, 10.2.1985
16. Konzert: EM aus England II                                                                        20:00 Uhr
TU-Gebäude Ackerstraße


TIM SOUSTER: HEAVY REDUCTIONS

"Heavy Reductions" führt die viktorianischen Klavierauszüge von Wagners "Ring", die man mir abgewöhnt hatte, weiter. Das Stück verbindet schwülstige unpianistische Texturen mit der blumigen englischen Übersetzung des deutschen Textes. Das Stück ist die noch radikalere Reduktion des Anfangs von "Rheingold" auf ein einziges Melodieinstrument. Mit Hilfe des Tonbandes habe ich ein ganzes Wagnerisches Tuba-Orchester wiedererschaffen, wobei ich bei der Arbeit daran feststellte, dass ganze Passagen des Rheingold-Vorspieles sich durch elektronische Mehrfachechos darstellen ließen. Das Zeittypische des Werkes wird weiterhin durch die Rezitation der Wagnerschen Bühnenanweisungen, die bei so vielen modernen, "metaphysischen" Inszenierungen missachtet werden, vom Solisten betont.
Tim Souster


TIM SOUSTER: THE MUSIC ROOM

"The Music Room" ist ein Kompositionsauftrag von James Fulkerson und wurde von ihm 1976 in der Wigmore Hall unter Mitwirkung von Stephen Montague uraufgeführt. Der Tonbandteil wurde im Studio für Elektronische Musik der Keele Universität, das ich zu jenem Zeitpunkt gerade einrichtete, realisiert. Einer der Ausgangspunkte des Stückes lag in der Entdeckung, die ich während der Ausstattung des Studios machte, dass die Firma, die mich mit Verstärkern, Lautsprechern und ähnlichem belieferte, auch Verträge mit der Armee hatte. Ich war nicht davon überzeugt, dass auf Seiten der Militärs ein großer Enthusiasmus elektronischer Musik gegenüber herrschte und fand schließlich heraus, dass Schall von ihnen zu Verhören und zum Zwecke der Steuerung von Menschenmengen benutzt wurde. In Nordirland wurden der Mitgliedschaft der IRA Verdächtige über längere Zeit sehr lautem weißen Rauschen als Teil einer Verhörmethode ausgesetzt, die mit den Mitteln der "sensory deprivation" (Beraubung der äußeren Wahrnehmung) arbeitete. Der Effekt wurde durch das Verbinden der Augen und durch locker sitzende Kleidung verstärkt. Die Folgen dieser Prozeduren waren kein Witz. Nicht ein einziger "Terrorist" überstand diese Methoden unversehrt, und einige der "Guinea Pigs" trugen schwere psychische Dauerschäden davon. Schließlich wurde die Britische Regierung vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen der Duldung solcher Methoden verurteilt. Der Raum, in dem die Verhöre stattfanden, wurde "Music Room" genannt.
Ein anderes Beispiel für die militärische Nutzung von Schall war die unglückselige "Squark-Box", die entwickelt worden war, um Menschenansammlungen an den Straßenecken von Belfast und Derry zu zerstreuen. Ein Armeeforscher hatte herausgefunden, dass die Kombination einer Frequenz von 10.000 Hz mit einer Frequenz von 10.004 Hz einen starken Infraschalleffekt hervorruft, der zu Übelkeit bei den verdächtigen Gruppen führt, die sich an den bestimmten Straßenecken aufhalten würden. Zum Nachteil jedoch für die Insassen jener Kampfwagen, die dieses gefährliche Material ausstrahlen sollten, erwies sich die Lautsprecheranlage als zu wenig gerichtet. Die Armee wurde von den Symptomen ebenso schnell betroffen wie der mutmaßliche Feind.
Nie jedoch wurde ein solch grässlicher Effekt bei dem Publikum dieses Werkes verzeichnet. In der Musik, die kein politischer Traktat ist, sondern das obengenannte Material in einer ambivalenten Weise präsentiert, werden elektronische Klänge mit einem Marsch kontrastiert. Dieser Marsch ist "Lillibulero", der Regimentsmarsch der Royal Electrical and Mechanical Engineers.
Tim Souster


TIM SOUSTER: THE TRANSISTOR RADIO OF ST. NARCISSUS

Dieses Werk, das von der ACGB in Auftrag gegeben wurde, ist für Flügelhorn, Tonband und Liveelektronik geschrieben. Der Titel bezieht sich auf eine Passage aus Thomas Pynchons Buch "The Crying of Lot 49", in der die Protagonistin durch den Anblick des Planes einer brandneuen Wohnanlage in Südkalifornien ("San Narcisco") an ihren ersten Blick auf die Schaltkreise eines Transistorradios, das sie einmal öffnete, erinnert wird. Beide schienen eine bestimmte Struktur zu haben, beide schienen zu ihr in Hieroglyphen zu sprechen, die sie nicht entziffern konnte. "As if, on some other frequency, or out of the eye of some whirlwind rotating too slow for her heated skin even to feet, the centrifugal coolness of words were being spoken."
Momente der Offenbarung und des erweiterten Verständnisses scheinen an Knotenpunkten aufzutauchen, dort, wo verschiedenartige Schwingungen sich zu einer übergeordneten Struktur verbinden. Man muss sich auf die Wellenlänge der Nacht einstellen, wie die Extraterresten es in "Unheimliche Begegnung der Dritten Art" taten, wenn sie dabei auch einige Fensterscheiben zerbrachen und Wissenschaftler zu den Portaloos schickten.
Die Form von "Transistor Radio" ist die einer zunehmenden Fokussierung. Es beginnt mit den geräuschhaftesten Klängen, derer das Flügelhorn mächtig ist. Wenn dann jedoch die Frequenzstrukturen untersucht werden, werden die Regelmäßigkeiten und die signifikanten Strukturen entdeckt. Am Ende schließlich löst sich das Stück in einen konsonanten Zusammenklang und einen gleichmäßigen Rhythmus. Es ist eine Reise herunter durch die Schichten des Klangspektrums.

Tim Souster


JAMES FULKERSON: FORCE FIELDS AND SPACES (1981)

Dieses Werk ist ein Kompositionsauftrag der Rosemary Butcher Lance Company mit Unterstützung des Arts Council of Great Britain. Es war ein gemeinsames Projekt mit der Choreographin Rosemary Butcher und dem bildenden Künstler Jon Groom, der eine Plastik und ein begleitendes Licht-Design entwarf. Die Bildwelt dieser Künstler regte den Titel an (wie auch meine persönliche Lektüre in jener Zeit, die sich mit der Geschichte der Naturwissenschaften beschäftigte). Die Musik, die sich in vier Teile gliedert, füllt einen ganzen Abend, wenn sie ganz aufgeführt wird:
Teil I ist für Posaune und Bandverzögerung oder auch für vorher bespieltes Tonband geschrieben.
Teil II ist für Posaune und vorher bespieltes Tonband,
Teil III für Posaune und Bandverzögerung,
Teil IV ist für Tonband mit fakultativem Instrumentalensemble.


JAMES FULKERSON: SUITE FOR SOLO CELLO (amplified), (1978/79)

Meine "Suite für Solo Cello" wurde für die junge australische Cellisten Sarah Hopkins anlässlich eines Aufenthaltes als Composer-in-Residence am Victorian College of the Arts in Melbourne geschrieben. Als ich zu komponieren begann, sorgte ich mich wegen der verschiedenartigen Charakteristik der vier Sätze, sagte mir aber dann, dass dies in 25 bis 30 Jahren wohl hauptsächlich eine akademische Frage sein würde. Ich muss gestehen, dass schon fünf Jahre später dieses Problem ziemlich fern ist. Die vier Sätze sind überschrieben:

Song for Sarah
Alaudin
From the Rothko Chapel
Interstellar Space

James Fulkerson


JOEL CHADABE: TWENTY-THREE GO
                                   SCENES FROM STEVENS

 

Seit 1977 arbeite ich mit einem kleinen Mini-Computer / Synthesizer-System, das von der Firma New England Digital Corporation speziell für den musikalischen Gebrauch entwickelt wurde.
Meine Idee bei der Arbeit mit diesem System ist, es als intelligentes Instrument zu nutzen; intelligent in dem Sinne, dass es von allein funktioniert, dass es automatisch Entscheidungen fällt und dass es auf das, was ich tue, in einer komplexen, nicht gänzlich vorhersagbaren Art und Weise antwortet, indem es mit seinen Mitteln Informationen erzeugt und mir Hinweise für weitere Aktionen gibt. Das System geht auf mich und ich gehe auf das System ein, und die Musik gewinnt ihre Form durch diese sich gegenseitig beeinflussende, interaktive Beziehung.
In "Solo" bestimmt der Computer die Töne einer Melodie und ihre Begleitakkorde während ich spiele, indem ich meine Hände in der Nähe zweier entfernungsempfindlicher Antennen bewege. Wenn ich mit der rechten Hand der rechten Antenne näherkomme, steuere ich die Geschwindigkeit der Melodie, indem ich die Dauer jeder einzelnen Note erhöhe oder vermindere. Wenn ich die linke Hand in der Nähe der linken Antenne bewege, steuere ich die Klangfarbe, indem ich meine Hand durch Zonen bewege, in denen verschiedene computererzeugte Instrumente, die an Vibraphon, Klarinette oder Flöte erinnern, spielen. Es ist, als ob man ein improvisierendes Orchester leite. Ständig bin ich mit Situationen konfrontiert, die unvorhersehbare Elemente enthalten. Ich reagiere auf das, was ich höre, ich nutze das Unerwartete als Vorteil, ich führe die Musik zu den Situationen, die ich bevorzuge.
"Scenes from Steven" basiert auf der Bilderwelt von Wallace Stevens "Dreizehn Arten, eine Amsel anzuschauen", besonders den folgenden Versen:

Among twenty snowy mountains
The only moving thing
Was the eye of the blackbird.
Icicles filled the long window
With barbaric glass.
The shadow of the blackbird
Crossed it, to and fro.
The mood traced in the shadow
An indecipherable cause.
I do not know which to prefer
The beauty of inflections
Or the beauty of innuendos,
The blackbird whistling
Or just after.

Diese Verse zogen mich an, weil in ihnen verschiedene Bildwelten, die durch ein gemeinsames Thema verbunden sind, aufscheinen – mit anderen Worten, Klang und Struktur. Bildungen wie "snowy mountains", "icicles", die ein Fenster mit "barbaric glass" füllen, suggerieren eine Art eisigen, magischen Klang, und Wörter wie "inflections", "innuendos" und "the blackbird whistling ... " rufen ein wärmeres Gefühl wach, vielleicht eine Melodie. Die Zeile "an indecipherable cause" war von besonderer Bedeutung, weil sie den Typus von Prozess zu reflektieren schien, den ich in meiner Musik bevorzuge, wo ein Klang unerwartet einem anderen in einem lyrischen Fließen folgt. Sie deutete auch die besondere strukturelle Idee an, die hinter der Komposition steht: die Gegenwart einer unsichtbaren Melodie, die von Klängen begleitet wird. Die Melodie ruft eine Begleitung hervor, ist selber aber unsichtbar, nur gegen Ende tritt sie als "the blackbird whistling" in Erscheinung.
"Twenty three go", geschrieben für den Posaunisten James Fulkerson, und "Rhythmus", geschrieben für den Schlagzeuger Jan Williams, sind beides Improvisationen für Computer und Instrumentalisten. Wie in den meisten Improvisationen entwickelt sich die Musik wie ein Gespräch, als Ergebnis des Gedankenaustausches zwischen den beiden Aufführenden.
Joel Chadabe


Synclavier I


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