INVENTIONEN'84  
Beitrag zu den beiden ersten Konzerten: INA GRM


Zur GROUPE DE RECHERCHES MUSICALES

von Emmanuelle Loubet

 

Wer sind diese zwölf Komponisten, die heute und morgen in INVENTIONEN '84 gemeinsam unter dem Namen "INA-GRM" auftreten, und zwar mit einem Lautsprecherorchester, dem ACOUSMONIUM?

GRM ≈      Groupe de Recherches Musicales
Motto:       Musique Acousmatiques ( Akusmatische Musik)
                 Musique Conrète (Konkrete Musik)

Eine neuere Richtung abstrakt-elektronischer Musik? Die Abstraktheit hat man wohl dem Urheber der Musique Conrète, Pierre Schaeffer, vorgeworfen, als er 1948 die ersten "Geräuschkonzerte" im Pariser Rundfunk sendete und 1950 mit konkreter Musik zum ersten mal in Paris live auftrat. Mit Platten – zerbrochenen Platten, Platten mit Endlos-Rillen, mit präpariertem Klavier und allerlei exotischen Klangerzeugern – hat er im Versuchsstudio die "Symphonie pour un homme seul" (Symphonie für einen einsamen/einzigen Mann) und eine Serie von Etüden komponiert (Etude aux allures, Etude aux chemins de fer, Etude au casseroles / Etüde über Geschwindigkeiten, über Eisenbahnen, über Kochtöpfe), bevor die ersten brauchbaren Tonbänder 1950 aufkamen. Aber wenn diese Richtung abstrakt ist, was sollte man von den "Jerks" (Poptänzen) von Pierre Henry, seinem früheren Mitarbeiter, halten und dessen "Messe pour le temps Présent", von Béjart choreographiert?
Für diese Gruppen gelten aber andere Kriterien: ein riesiges OHR sollte man als ihr Symbol weithin sichtbar aufhängen. Ein Ohr, das durch das Orchester aus Lautsprechern auf der Bühne dargestellt ist: brillante und matte Lautsprecher-"Familien", Familien von Farbcharakteristiken aller Art, Hochfrequenz-, Tieffrequenz-, Mittelfrequenz-Lautsprecherzonen, rund, viereckig, quadratisch, bunt. Sie stehen nicht nur vorne auf der Bühne, sondern wuchern auch mitten ins Publikum, befinden sich hinten, oben, unten und "spezialisieren" den Raum; sie schaffen einen künstlichen akustischen Raum - pardon: "akusmatischen" Raum. Sie werden von einem zentralen Mischpult aus kontrolliert. So kann man Tonbandwerke mit der höchsten Feinheit interpretieren, ihr Licht, ihre bevorzugten Klanglinien wirklich live gestalten und umgestalten. Eine merkwürdige Tradition der Gruppe, wenn man an Schaeffer Anfang der 50er Jahre denkt, der die Intensität seiner Tonbandspuren durch die Position einer kleinen Sendespule, die er in der Hand hält, gegenüber einer riesigen, in der Luft hängenden Spule moduliert.
Die Musique Conrète basiert auf Tonaufnahmen (Alltagsmaterial, Umweltklänge - also konkrete Klänge), die auf Band montiert und transformiert werden (schneiden, beschleunigen, Dynamik steuern, Hüllkurven versetzen, filtern, usw. …), wobei das Technik-Team seltsame Apparate entwickelt hatte, wie z.B. das "Phonogène à coulisses" (Schiebe-Phonogen, 1951) mit seinen zwölf Magnetköpfen. Es erlaubt, die Geschwindigkeit des Bandes zu verändern, ohne die Tonhöhe zu transponieren. Eine Portion Geschichte.
Diese Arbeit mit externem Material war der entscheidende Unterschied zur elektronischen Musik aus Deutschland (Stockhausen in Köln u.a.), wo man aus Zusammensetzung und Übereinanderschichtung von bloßen Sinustönen (also künstlich erzeugten Tönen) neue Klänge, Klangstrukturen bis zu gesamten Werken erzeugen wollte.
Im Gegensatz dazu spricht man in Paris nur von OBJEKTEN (objets sonores), die schon mit innerem Leben antreten und eigenständige Mikro-Klang-Skulpturen bilden. Aber die 1951 gegründete Gruppe sowie das Studio haben sich verändert. Die Plattenspieler sind längst verschwunden, Synthesizer drangen ein, Computer wurden eingesetzt. Neben der elektronischen Ausrüstung besitzt jetzt das Studio zwei Computereinheiten, die unterschiedlich einzusetzen sind:
- eine PDP 11/60 (non-real time)
(256 kByte Memory, 3 Terminals, Drucker, Massenspeicher, Graphikbildschirm, 2 Analog Eingänge/ Ausgänge)
- SYTER, - DEC 11/23 (real time)
(Mikro-Computer + audio-numerischer Prozessor, von der GRM entwickelt);
(16 Analog-Eingangs-/Ausgangs-Kanäle, Klaviatur zum Einsatz in Konzerten)
"Konkrete" Klänge werden digital synthetisiert, Bandmaterial durch Computer manipuliert. Was bleibt überhaupt übrig von der konkreten Musik, wenn alles elektronisch und digital abläuft? Existiert überhaupt für die Gruppe ein gemeinsamer ästhetischer Nerv? Hören wir Ivo Malec über die Anwendung der Digitaltechnik:
"Der Computer im GRM? Es ist eine ganz andere Philosophie, die dahintersteckt. Die GRM hat als erste den Computer von seiner 'normalen musikalischen' Anwendung weggebracht, von dem Weg, den man ihm im IRCAM z.B. instinktiv vorschreiben will, dem Weg der Klangsynthese. Es geht im GRM nicht darum, den Computer abzulehnen: es geht ums Komponieren. In diesem Sinn sind die Klänge der aktuellen Klangsynthese sehr arm: Forschungsklänge, Experimentalklänge. Der Komponist kann nicht plötzlich alles stoppen, um abzuwarten, dass der Computer komplexe Klänge schafft. Weil die GRM dazu neigt, komplexere und reichere Klänge zu verarbeiten, hat man genauso instinktiv die Möglichkeiten eines Computers auf unübliche Weise angewandt: der Computer ist etwas, das ein Signal, das man ihm eingibt, transformiert. Aber anschließend muss man ins Analog-Studio gehen, um zu komponieren. Der Computer funktioniert nur als Klangerzeuger."
Also hier bleibt doch die lebendige Materie und die "Idee" eines Objet Sonore als Ausgangspunkt: Das OHR. Die manipulierten Klänge kommen schon mit ihrer inneren Struktur und Geschichte hinein, bringen von vorneherein Lebendiges und Komplexreiches mit sich.
Es wird mit ihren Charakteristika gespielt, sie verschwinden hinter den Transformationen oder sie werden in ihr Gegenteil verschoben, sie irradiieren, unterschiedlich entfremdet bezüglich ihres Ursprungskontextes. Vielleicht ist es, was François Bernard Mâche, einer aus der Gruppe, "Phonographie" nennt, eine Übersetzung in die Welt der Klänge von einem Lebensausschnitt, den ein Foto als Material darbieten kann. Daher die für die Werke der Gruppe typische ästhetische Erscheinung: das Spiel der Assoziationen – eine Dialektik zwischen Hervorrufen von Bildern, die durch wiedererkannte Geräusche und deren Erzeugungsquelle ausgelöst werden, und abstrakt-emotionaler Anregung: dies letztere fordert den Zuhörer auf, sich Bilder und Assoziationen in seiner eigenen Welt zu schaffen und in die Musik zu projizieren. Die Reaktion ist zwar durch ein Gefühl des "Sich-Erinnerns" ausgelöst, aber auf einer anderen Ebene, wo es nicht mehr möglich ist, die Klangquellen und deren ursprünglichen Kontext bewusst zu orten.
Dies sind mehrere Punkte, um die Rand- und Knotenposition der GRM Musik zwischen experimenteller-, "U" -, und zeitgenössischer "E"-Musik aufzuzeigen. Das spiegelt sich oft in dem sehr heterogenen Publikum wider.
Darüber hinaus darf man folgende Weiterentwicklung nicht vergessen: die starre Tonbandwelt der Objets Sonores hat ihre "Spuren" den Live-Instrumenten weit geöffnet, die Flexibilität improvisatorischer Formverläufe hat sich in die fixierten Studio-Aufnahmen gemischt. Das elektro-akustische Bild wird vielfältig erweitert (Mâche: Cassandra / Schwarz: Symphonie / Malec: Lumina für Streichorchester und Band / Reibel: Suite pour Edgar Poe / Redolfi: Pacific Tubular Waves …)
Das Studio ist fremden Einflüssen gegenüber offen, viele Komponisten finden dort Arbeitsmöglichkeit. Die INA/GRM verlegt auch Platten und verschiedene Schriften. Mehr als bloß eine Gruppe von Komponisten hat die GRM weit gefasste Aufgaben: seine Zusammenarbeit mit Radio-France, Forschung im audio-visuellen Bereich (GRM ist nämlich seit 1975 ein Teil des INA-Institut National de l'audiovisuel), und zahlreiche pädagogische Aktivitäten, die uns im Workshop Rudolf Frisius vorstellen wird.
Eine Vielfältigkeit, die schon Gewohnheit unter diesen komisch-lustigen Leuten ist: Chion macht Filme, Parmegiani pop-artige Filmmusiken, Malec zeichnet und kommt mit Bühnenerfahrung, Schaeffer gibt gerade einen langen, langen Roman heraus.


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