INVENTIONEN'84                                                                                              Freitag, 17.2.1984
8. Konzert: TU Berlin und HfM Köln                                                                     19:30 Uhr
TU-Gebäude Ackerstraße


STEFAN TIEDJE / THOMAS SEELIG: HORROR VACUI

Ein Hauptproblem bei der Realisation elektroakustischer Musik stellt unseres Erachtens nach die Uferlosigkeit des zur Verfügung stehenden Materials dar. "Horror Vacui" begibt sich aber nicht in die Tradition der seriellen Musik, keine Wiederholung zuzulassen. Unser Material beschränkt sich auf 8 verschiedene Klangtypen; die Variation entsteht durch Überlagerung und veränderte zeitliche Abfolgen. Komponieren ist: diese Klänge in einer Weise zu organisieren, dass bewusst Gefühle beim Zuhören ausgelöst werden (ursprünglich bestand die Absicht, eine "Ambient-Music" zu schaffen). Maßgebliche Inspiration erhielten wir aus der Musik von Satie, Eno, Mandolini, Xenakis.


TETSUYA OMURA: FERNE

Ferne ist etwas, was man gerade nicht hat, eine gewisse Idylle z. B. Idylle drückt Sehnsüchte aus in dem Bewusstsein, verzichten zu müssen (es sei denn, wir hören "hinaus").
Das Stück ist Folkmar Hein gewidmet.


MICHAEL OBST: METAL DROP MUSIC

Ausgangspunkt war der Versuch, sehr rasche komplexe Klanggruppen darzustellen, die aus punktuell artikulierten Einzelklängen bestehen sollten. Vergleichbar mit dem akustischen Ergebnis von z.B. auf eine ebene Unterlage auftreffende Glasperlen sollten die gewünschten Klangereignisse einen gewissen zufälligen Charakter erhalten. Das gewünschte Ergebnis wurde mit Hilfe von festgelegten Steuerprogrammen erzielt; die inneren Strukturen der Klanggruppen wirken zufällig, ihr Auftreten, musikalischer Stellenwert und ihre inneren Entwicklungen unterliegen ganz gezielten kompositorischen Erwägungen. Ferner bilden statische oder in sich strukturierte flächenhafte Klänge die zweite wesentliche Komponente des Stückes. Klangpunkte und Klangflächen sind daher die musikalischen Extreme in "metal drop music".
2. Preis beim Internationalen Wettbewerb für Elektroakustische Musik 1981 in Bourges, Frankreich.


MICHAEL OBST: VISIONI DI MEDEA

Zur Realisation dieser Komposition wurden ausschließlich konkrete Instrumentalklänge verwendet:

 Klavier: Schlag auf den Metallrahmen
  Pizzicato (h")
  statischer Ton (' H)
  Cluster (tief)
Violine: statischer Ton (e") sul ponte
Cello: statischer Ton (C)

Zur Komposition: Die drei Parameter Klang, Raum und Dauer sollten in ihren extremsten Formen dargestellt werden. Daher stehen sehr obertonreiche Klangfolgen geräuschhaften Passagen gegenüber, werden ungemein rasche Strukturen und flächenhaft statische Klänge verarbeitet, wechseln räumlich dichte Abschnitte mit scheinbar unendlich weiten. Die Verwendung extremer Bereiche der oben genannten musikalischen Parameter erweckt nicht zuletzt auch durch das Medium elektronischer Musik den Eindruck von Fremdartigkeit, ohne jedoch beim Hören die Erinnerung an Bekanntes zu verlieren.
 "Visioni di Medea" wurde in Zusammenarbeit mit IPEM, Gent, und dem Studio für elektronische Musik der HfM Köln produziert.
Realisation: Michael Obst (Gent), Marcel Schmidt (Köln).

 


RICARDO MANDOLINI: POEMA REITERAOO

Das Stück POEMA REITERADO basiert auf meinem Gedicht PALABRAS (Worte) aus dem Jahre 1972:

palabras worte
naufragos y naufragios schiffbrüche und schiffbrüchige
decir una palabra beim aussprechen eines wortes
es tornarse un navio wird man zum schiff,
que se aleja hacia el mundo das sich zur welt hin entfernt.
la palabra es al mundo das wort ist zur welt
lo que el ojo deI vigia a tierra so wie das auge des wächters zur erde
una distancia eine entfernung
eso es lo que siente el poeta so empfindet der poet
desde su barca fantástica indem er segelt und begreift
a medida que navega y comprende dass es für ihn keine häfen mehr
que ya no habrá puertos para él geben wird
porque cruzar el charco denn das überqueren jener pfütze
que lo separa de las cosas die ihn von den gegenständen trennt
seria tan dificil wäre so heikel
como cruzar el océano que lo wie das überqueren jenes ozeans
separa de si mismo. der ihn von sich selbst fernhält

Vom rein formalen Gesichtspunkt aus gesehen, ist POEMA REITERADO in 5 Teile gegliedert:
Der 1. besteht aus dem rezitierten Text, mit Begleitung.
Der 2. ist ein Übergangsteil, in dem musikalische Figuren auftreten, die einerseits die Verse akustisch nachahmen, andererseits von diesen bewusst unabhängig bleiben.
Im 3. und 4. Teil ist die musikalische Abhandlung ein Kommentar zum Assoziationsinhalt der Verse "una distancia", "eso es lo que siente el poeta" und "la palabra es al mundo".
Der 5. Teil stellt die Pause als kompositorisches Erneuerungselement dar und bildet allmählich die Sprache und ihre Bedeutung nach.
Das ganze Stück kann außerdem als ein stufenmäßiges Spiel von Verlieren und Wiederfinden der semantischen Bedeutung des genannten Gedichtes betrachtet werden.
Ich möchte mich bei Leonardo Martinez für seine Mitwirkung bedanken, dessen Stimme (1980 aufgenommen) das "Rohmaterial" für das vorliegende Stück lieferte. Ebenfalls danke ich dem Phonetischen Institut der Universität Köln für die Unterstützung bei meiner Forschungsarbeit im Bereich der Formantanalyse.
Die technische Realisierung erfolgte im Studio der HfM Köln mit der dankenswerten Unterstützung von Marcel Schmidt.·


Für Ricardo Mandolini

(Auszug aus dem Schallplattentext ERZ-I, Edition Robert Zank, Berlin)

Die bemerkenswerte und erstaunliche Entwicklung des Ricardo Mandolini begann sicher nicht mit dem Oktober 1977, als dieser, direkt aus Argentinien kommend, in Köln eintraf und seine Arbeit im Studio für elektronische Musik der Kölner Musikhochschule aufnahm - wohl aber spiegeln die seitdem in regelmäßigen Abständen und in verschiedenen Studios entstandenen elektronischen Kompositionen Mandolinis geradezu exemplarisch die Entwicklung eines Komponisten wider, der, obwohl in seiner Heimat mit dem Medium kaum vertraut, in neuer Umgebung direkt und unmittelbar sein Begabung für die elektronische Musik und seine Affinität zum "Komponieren im Studio" entdeckte und sofort in klingende Musik (und nicht nur in papierene Entwürfe) umzusetzen verstand. Dabei führte ihn eine gewisse "Entdeckermentalität", aber auch seine kritische Intelligenz stufenweise durch den gesamten Bereich heutigen elektronischen Komponierens: von der ersten, fast puristisch gehandhabten, rein elektronischen Studie über die Einbeziehung sog. konkreten Materials und das Komponieren von Sprachklängen (die von der menschlichen Stimme mit elektronischen Mitteln hergeleitet werden) bis zur Beschäftigung mit der digitalen Technologie der Computer.
In all seinen Kompositionen zeigt Mandolini ein hohes Maß an konstruktiv gestaltender musikalischer Phantasie, eine kritische und ökonomische Einstellung zu unterschiedlichen Materialdispositionen sowie die Fähigkeit äußerst sensibler Klangfarbengestaltung .
Sein Verhältnis zur Technologie der elektronischen Musik ist immer bestimmt von der Überzeugung, dass diese der Musik zu dienen hat und sich nie der Kontrolle durch den Komponisten entziehen darf – so erliegt er nie dem (latent immer vorhandenen) Drang von "Technik" zur Schablone.
Ein auffallendes Charakteristikum von Mandolinis Musik besteht in der strengen Sparsamkeit der für ein Stück einmal verbindlich festgelegten Klangmittel – der sog. Instrumentalität. Allen Kompositionen ist eine klar verfolgbare formale Gliederung eigen, die Mandolini zu einen durch konsequente Durchführung von charakteristischen "Episoden", zum anderen durch sog. variierte Reprisen erreicht. Den häufig fließenden und sich organisch entwickelnden Klangabläufen liegen nicht selten poetische Vorstellungen zugrunde, die sich gleichsam in einer Dramaturgie von Klangbildern konkretisieren.
Es mag für manchen gelegentlich nicht einfach sein, den Kompositionen Mandolinis zu folgen – nie aber wird sich das Gefühl musikalischer Beliebigkeit oder gar Langeweile einstellen, vielmehr wird dem konzentriert Hörenden eine Musik dargeboten, die ihn durch reizvolle Klanglichkeit und rationale Gestaltung zu faszinieren vermag, ja, die häufig der Kunstvorstellung von der "Vielfalt in der Einheit" gerecht wird.

Hans Ulrich Humpert (Leiter des elektronischen Studios der HfM Köln)

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