INVENTIONEN'83                                                                                              Montag, 7.2.1983
3. Konzert                                                                                                            21 Uhr
TU-Gebäude Ackerstraße (Wedding)


RICARDO MANDOLINI

1950 in Buenos Aires geboren. Erhielt seine musikalische Ausbildung (Komposition, Cello und Elektronische Musik) in Argentinien. Ab 1978 Gast des Deutschen Akademischen Austauschdienstes und Arbeit in verschiedenen Studios Europas (Köln - Hochschule für Musik, Gent- IPEM, Berlin - Technische Universität). 1982 erhielt er ein Stipendium des EMS Stockholm. Mandolini errang mehrere internationale Preise für seine elektroakustischen Werke.

ESTALLIDO BREVE
("KURZE EXPLOSION"), 8'35", STEREO

Das Stück ESTALLIDO BREVE wurde 1980 im Studio IPEM (Instituut voor Psychoacustica en elektronische Muziek), Gent, Belgien, komponiert. Es ist ein rein elektronisches Werk, dessen Klangmaterialien zwei verschiedenen Quellen entnommen wurden: dem Testprogramm FMT, auf der Grundlage des Computers PDP-15/XUM des Studios EMS in Stockholm, Schweden, und dem Synthesizer Synthi 100 des oben genannten Studios in Belgien. Wichtigste Merkmale dieses Stückes sind:
Ein organischer Ablauf, bei welchem als einziges Erneuerungselement jeweils der Zeitpunkt der Einsätze jedes der einzelnen Töne auftritt.
Der psychologische Wert der Pausen, die sich jeweils voneinander unterscheiden und als Artikulation zwischen den Tönen - keineswegs als Trennung - agieren.
Ein erbitternd langsames Tempo, dessen Absicht es ist, bei dem Hörer das Gefühl eines unbeständigen und stets beinahe zerbrechenden Gleichgewichtes zu bewirken.
Eine strenge Sparsamkeit der Klangmaterialien sowie der verarbeitenden elektroakustischen Prozeduren.
ESTALLIDO BREVE ist kein Stück für Hörer, die musikalische Überraschungen mögen. In der Tat gibt es in ihm keine Überraschungen, sondern eine statische Reihe von Wiederholungen, die konsequent zum Finale führen. Musikalisch gesehen ist ESTALLIDO BREVE die Dialektik zwischen einem Thema mit scharfen Umrissen im Vordergrund, sozusagen einer mit dem Computer erzeugten "großen Trommel", und einem anderen im Hintergrund vorgestellten Thema, dessen Lautstärke und Dramatik sich allmählich steigert. Dieser zweite musikalische Gedanke ist gleichzeitig ein ständiges Accelerando.
Von ESTALLIDO BREVE gibt es zwei Versionen: die eine für Tonband und Bassklarinette wurde 1981 in La Rochelle, Frankreich, sowie auf den Weltmusiktagen der ISCM (International Society for Contemporary Music) in Brüssel, wo sie meine Heimat Argentinien vertrat, aufgeführt. Die zweite Version für Tonband allein, die auch heute bei den INVENTIONEN erklingt, wurde im August 1981 in Montevideo uraufgeführt.

CANCION DE MADERA Y AGUA
("LIED VOM HOLZ UND WASSER"), 8'24", STEREO

CANCION DE MADERA Y AGUA ist ein Stück konkreter Musik, das 1981 im Studio IPEM komponiert wurde. Sein wichtigstes Kennzeichen ist die Abwechslung zweier im Gegensatz zueinander stehender Klangbilder: zum einen die Rolle der dramatischen Töne (durch Perkussion von Schlegeln auf verschiedenen Holzgegenständen erzeugt), und zum anderen die lyrische, zierliche Rolle von sich wiederholenden Pulsen auf Gläsern, Bechern, Maultrommeln usw.
CANCION DE MADERA Y AGUA erhielt den zweiten Preis in der Kategorie "analoge elektroakustische Musik" beim 10. Internationalen Wettbewerb von Bourges, Frankreich, 1982.

FABULAS
(FABELN, 9'35"), STEREO

FABULAS war mein erstes Stück, produziert im IPEM Gent im Jahre 1979. Bei der Kreation dieses Stückes hatte ich mir vorgenommen, eine Reihe von musikalischen Metaphern zu erzeugen, die an die Atmosphäre der Kindermärchen erinnern sollte. So stellt FABULAS acht Episoden oder Geschichten vor, die sich musikalisch in Form einer Suite gestalten. Die elektronischen und konkreten Klangmaterialien beabsichtigen eine Annäherung zur Orchester-Instrumentation.
FABULAS erhielt 1979 eine Ehrenauszeichnung im Wettbewerb für elektroakustische Musik in Bourges. Sein vorwiegend deskriptiver Inhalt ermöglichte es der Künstlerin Deborah Mucia, verantwortliche Lehrkraft für modernen Tanz an der Musikhochschule der Universität von Depah, Indiana, USA, eine choreographische Fassung von FABULAS zu erarbeiten. Diese Tanzversion wurde im April 1982 aufgeführt.

 

PRESENTIMIENTO
("VORGEFÜHL), 9'25", QUADRO, (URAUFFÜHRUNG)

Dies ist ein perkussives Stück, zu dessen Analyse mindestens zwei verschiedene Kriterien angewendet werden können. Bezüglich seiner allgemeinen Dynamik sind in ihm vier verschiedene Abschnitte erkennbar: der erste und der dritte sind durch eine wachsende Lautstärke gekennzeichnet, die von der ebenfalls wachsenden Tondichte unterstützt wird; indessen sind der zweite und der vierte Abschnitt statisch, ihre Dynamik bleibt unverändert und erreicht höchstens ein mezzoforte. Zwischen dem zweiten und dem dritten Abschnitt ist ein ausgedehnter Übergangsteil wahrzunehmen, in welchem die geringen Veränderungen der Dynamik das wichtigste Erneuerungselement darstellen. Bezüglich der kompositorischen Entwicklung weist PRESENTIMIENTO dagegen eine einheitliche Form auf: es ist ein Klangbogen, dessen "Teile" lediglich verschiedene Augenblicke des musikalischen Gedankens bedeuten. Das Merkmal dieses Gedankens ist eine Pulsfolge im ständigen Accelerando, die am Anfang des Stückes dessen Tempo "Adagio Ostinato" festlegt.
Der Name PRESENTIMIENTO bezieht sich auf das Vorgefühl von Unheil und Krieg während des Komponierens im Mai 1982, das sich leider durch die allgemein bekannten Fakten bestätigte (Krieg im Südatlantik).

FABULAS II
("FABELN, zweiter Teil"), 10'23", QUADRO

Technische Realisation: Folkmar Hein, TU Berlin
Das Stück FABULAS II wurde 1980 im Studio der Technischen Universität Berlin komponiert und realisiert. Es besteht aus zwei langen Sätzen von je ca. 5 Minuten, die voneinander durch eine deutliche Pause getrennt sind. Der erste Satz, von recht fließendem Charakter und selbst in drei Abschnitte gegliedert, kontrastiert stark zum zweiten Satz, der aus einem vierstimmigen Choral mit langsamer Begleitung besteht. Erwähnenswert ist, dass - obwohl dieser zweite Satz hinsichtlich des klanglichen Materials eine Reprise des ersten Satzes ist - beide Sätze voneinander weitgehend unabhängig sind. Und zwar aus folgenden Gründen:

Obwohl FABULAS II und FABULAS eine musikalische Einheit bilden, hat jedes Stück für sich einen bestimmten Charakter und kann deshalb auch einzeln aufgeführt werden.
FABULAS II erhielt eine Ehrenauszeichnung beim 8.Internationalen Wettbewerb elektroakustischer Musik in Bourges, Frankreich, und wurde am 26.4.1980 im Lichthof der Technischen Universität Berlin uraufgeführt.

 

EL CUADERNO DEL ALQUIMISTA
("DAS HEFT DES ALCHIMISTEN"), 9'20", STEREO

EL CUADERNO DEL ALQUIMISTA wurde 1979 im elektronischen Studio des IPEM, Gent, Belgien komponiert und realisiert.
Dieses Werk besteht unter anderem aus Klangmaterialien, die von der menschlichen Stimme stammen. Diese Stimme erzeugt keine verständliche Sprache, sondern flüstert ohne semantischen Inhalt. Die sich daraus ergebende "Lingua" wurde in drei verschiedenen Erscheinungsformen ausgewiesen:

Das Wort SOMERU (ebenfalls ein imaginärer Ausdruck, ohne reale Bedeutung) dient jedesmal als Anlass für das heftige und manchmal bedrohliche Einsetzen der darauffolgenden Klangerscheinungen. Folglich kann die formale Gliederung des Stückes durch dieses Schema dargestellt werden:
A B C D A1 (BCD) D1,
wobei A und A1 eine große Sparsamkeit der Tondichte zeigen, B und D komplexe und laute Glissandi-Konfigurationen sind, C die "Stimme des Alchimisten" vorstellt und D1 durch eine plötzliche Schlusssteigerung und einen Abschluss der musikalischen Form gekennzeichnet ist.
EL CUADERNO DEL ALQUIMISTA wurde am 6.12.1979 in der Musikhochschule Köln uraufgeführt.

JUEGO DE MARIONETAS
(MARIONETTENSPIEL), 9'45", QUADRO


Technische Realisation: Marcel Schmidt
JUEGO DE MARIONETAS wurde 1979-1980 im Studio der Musikhochschule Köln komponiert und realisiert. Es handelt sich um ein elektroakustisches Stück, das sich in die deskriptive Welt der winzigen, ausdrucksvollen Klänge zu vertiefen sucht.
Die vorher aufgenommenen konkreten Klangmaterialien erscheinen mal ohne besondere Veränderung (z.B. Güeros, Rasseln) und behalten somit ihren assoziativen Charakter; mal aber verhindern auch die durchgeführten Veränderungen das Wiedererkennen der klanglichen Quelle (Klavier, Tam-Tams, Schlüsselbündel verschiedener Größen usw.). So ergibt sich ein Spiel zwischen deutlichem und verschwommenem Wiedererkennen der Instrumente-Tonerzeuger; der Name des Stückes ist davon abgeleitet.
Die elektronischen Klangmaterialien wiederum bezwecken eine vollständige klangliche Verschmelzung mit den konkreten Klängen, beide bilden eine neue Klangeinheit. Wie auch bei anderen Werken von mir ist in JUEGO DE MARIONETAS eine strenge Sparsamkeit an Mitteln und Effekten zu bemerken; die synchronisch-asynchronische Wiederholung von Pulsfolgen im hohen Register stellt das wichtigste thematische Element dar. Mit seiner einheitlichen Form und dem suggestiven, jedoch auch spielerischen Charakter, verflechtet das Stück zurückkehrende Reihen von musikalischen Ereignissen im Vordergrund in immer verschiedenen psychologischen Zusammenhängen.
JUEGO OE MARIONETAS wurde am 22. Oktober 1980 in der Aula der Musikhochschule Köln uraufgeführt.

CIRCULOS FOSFORESCENTES EN FONDO NEGRO
("LEUCHTENDE KREISE AUF SCHWARZEM HINTERGRUND") 8'36", QUADRO

Zwei Charakteristika sind bei CIRCULOS…  zu bemerken:
Durch sein philosophisch-kompositorisches Grundprinzip bilden Wahrscheinlichkeit und Determinismus entgegengesetzte Kategorien einer Gesamtdialektik. Alle ästhetischen Dualismen innerhalb des Stückes (Tonalität-Atonalität, Aleatorik-Regelmäßigkeit, Beschleunigung-Verlangsamung des Grundtempos usw.) sind diesen Kategorien untergeordnet wie die extremen Werte einer Funktion oder die Extremfälle eines Prozesses.
Alle klanglichen Bestandteile (insgesamt etwa 65) bilden quadrophonische Umlaufbahnen in verschiedenen Räumlichkeiten, jede von ihnen mit eigenen Merkmalen. Der Name CIRCULOS FOSFORESCENTES EN FONDO NEGRO unterstreicht diese zweite Hauptcharakteristik des Stückes.
CIRCULOS… erhielt 1982 eine Ehrenauszeichnung beim 4. Internationalen Wettbewerb elektroakustischer Musik "Luigi Russolo" in Varese, Italien, und wurde dortselbst am 10. Oktober 1982 uraufgeführt.
Einige ergänzende Bemerkungen zur technischen Realisierung der Stücke PRESENTIMIENTO und CIRCULOS FOSFORESCENTES EN FONDO NEGRO,
beide aus dem Jahre 1982:
als Hardware wurde der Computer PDP-15/XUM des digitalen Studios EMS in Stockholm, Schweden, und als Software das von Michael Hinton geschaffene Programm IMPAC (Interactive Music Performance and Composition) benutzt.
Dieses Programm besteht aus einem "non-real time" - Abschnitt, der die genauen Begriffsbestimmungen akustisch-musikalischer Parameter enthält. Beispiele für diese Parameter sind:

Neben dem "non real-time" - Programmblock gibt es den "real-time" -block, in welchem die Parameter während des kompositorischen Prozesses "live" geändert werden können. In diesem Fall verhält sich das "Computer-Terminal" wie ein Musikinstrument.
Beide Stücke weisen drei Eigenschaften auf, die bei einer Bearbeitung mit herkömmlichen analogen Verfahren unerreichbar gewesen wären:

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