INVENTIONEN'83
1. Konzert                                                                                                            Freitag 4.2.1983
2. Konzert                                                                                                           Samstag 5.2.1983
                                                                                                                             jeweils 21 Uhr

Luigi Nono                                                DIARIO POLACCO Nr. 2


 für vier Frauenstimmen, Bassflöte, Violoncelli und Live-Elektronik

 

Dauer ca. 40 Minuten


 

LUIGI NONO (geb. 1924)

in Venedig. Seit 1941 Theorieunterricht bei Gian Francesco Malipiero, Bruno Maderna und Herrmann Scherchen, 1946 Abschluss eines Jurastudiums an der Universität Padua. Erste Erfolge und Skandale zu Beginn der 50er Jahre bei den Kranichsteiner (Darmstädter) Ferienkursen und den Donaueschinger Musiktagen. Internationale Anerkennung mit "Epitaph für Garcia Lorca" (1953) und "Il Canto Sospeso" (1955). Seit 1960 intensive Beschäftigung mit elektroakustischer Klangumwandlung im Mailänder "Studio di Fonologia" des italienischen Rundfunks. Seit 1953 Parteimitglied der italienischen KP, Bildungsarbeit und Konzerte in Studenten- und Arbeiterkulturkreisen. Die Vermittlung seiner politischen und humanitären Haltung bildet die Basis seines kompositorischen Schaffens. Nach den Erfolgen der Oper "Intolleranza" 1961 in Venedig und Köln blieb das Werk Luigi Nonos in Deutschland aus dem Konzertleben weitgehend ausgeschlossen.
"Nono ist wohl der einzige Komponist seiner Generation, der die Frage nach der politischen Relevanz künstlerischen Handelns von Anfang an gestellt und mit der Frage nach neuen ästhetischen Voraussetzungen, nach neuem Material und neuen Methoden verknüpft hat, ohne sich auf irgendeinen salonfähigen Kompromiss einzulassen und ohne von irgendeinem jener Pseudo-Avantgardismen irritiert zu werden, welche in den 60er Jahren unter dem Deckmantel des Fortschritts die allgemeine Regression und Trivialisierung der Mittel in die Wege geleitet hatten. Die jahrelange Isolierung und Verpönung Nonos bei uns ist eine Blamage für das deutsche Musikleben" (H. Lachenmann) .

 

DIARIO POLACCO Nr. 2

"Und plötzlich erscheint das Thema der Apokalypse" sagt Georgij Florowsky in seinem Kommentar zu den nach 1890 entstandenen Werken von Wladimir Solowjew. In der Angst vor der Apokalypse leben die Dichter, die wir hier zitieren. Ihre Zeit des Kommenden. Ihre Sprache: Klage, Psalm, Prophezeiung. Das Moment der Katastrophe ist im Sinnbild der "Apokalypse" nicht von dem der Erlösung zu trennen. So heftig tritt diese Katastrophe ein, dass man bisweilen wünschen möchte, die Rettung nie zu erlangen, ja sogar, sie vermeiden zu können.
Solchermaßen hat die messianische Vision nichts von jenen landläufigen progressiven Glaubensvorstellungen, die versuchten, sich - je nachdem - von ihr zu nähren oder loszumachen: sie rechnet in jeder Fiber ihres Wesens mit der Möglichkeit des Scheiterns, ist aber, gleich dem Propheten, unermüdlich im Fragen, unermüdlich im Warten. Sie ist nicht blinde Hoffnung, sie will keinen blinden Glauben, sie fordert: begreife die Zeit des Kommenden. Wer bist du? So klingt es in ihr beständig wider. Russland, wer bist du? Moskau, wer bist du? Frauenname, wer bist du? Wer bist du selbst? Und: wer bist du, Sprache, dass du es vermagst, diese Zeit auszusagen, ihr Drama zu singen? Es ist an der Zeit, diese Poetik aus dem quietistischen und heuchlerischen Stereotyp des Zusammenbruchs, der Desillusion, der Angst zu befreien, die dem Schiffbruch der "revolutionären Hoffnungen" folgt. Diese Poetik sieht schon immer die Zeit des Kommenden als Symbol für Hoffnung und Scheitern gleichermaßen.
Apokalyptische Angst heißt: verzweifelt hoffen, ohne gläubig zu sein glauben. Nichts weiter als verzweifeln ist intellektueller Pessimismus: nichts weiter als glauben ist verwalteter leerer Schall. Diese Poetik hat ihren eigenen Ort: dort, wo Europa Schranke und Brücke zu Asien ist; wo es ständig in sich verharrt, in seiner Eigenart, in seinem Ethos, und wo Europa sich unaufhörlich selbst erörtert und befragt. Wo Europa beginnt - endet: im Land der Skythen und der "Zwölf" . Hier allein ist Neues möglich: wirkliche Anfänge - und ebenso möglich ist ein wirkliches Ende. Aus diesem Ort kommen gegenwärtig - im ersten "Satz" der Texte, die wir hier zitieren - Bilder des Todes. Die Erlöser haben nicht erlöst. Das Gelobte Land hat sich wieder verhüllt. Die Distel hält es bedeckt.
Aber so wie die Sprache im Innern arbeitet - mit der Geduld eines Maulwurfs, der Gänge für die Zukunft gräbt (Mandelstam) - so spaltet Chlebnikow, der ungeheure Chlebnikow, mit seinem "Rasiermesser aus Stein" die Mauern, welche die Sprachen gefangen halten, klagt die "strenggläubigen Wölfe" an, die sie in Ketten legen. Er droht ihnen mit der "Schriften-Rache": mit Erfindungsgabe, Magie, dem Zugriff der Gewalt entzogenen Metamorphosen, mit visionärer Kraft und der Fähigkeit, die Dinge - alle Dinge - als etwas Unerhörtes zu sehen.
Und wenn jegliches Ding so gesehen werden kann - als etwas Unerhörtes, als unteilbare Einheit -, vermag es sich noch jenem Schicksal des Todes zu entziehen, dem der Winter der "strenggläubigen Wölfe" es anheimgeben will. Vermögen wir diese Erwartung in uns zu bewahren, so können wir auch "den Tag erhellen", dem Tod die Stirn bieten, der gegenwärtig von dort kommt. Der Tod kommt gegenwärtig von dort, aber es wird kein Tod mehr sein, wenn diese Stimmen sprechen: wenn Milosz das polnische Vaterland als Ort seiner Sprache ansehen kann, wenn man in Ungarn die Sprache von Ady spricht und in Russland die von Pasternak. "Ich habe die weiße Fahne nicht gehisst"; auch "wenn sie am Sterben sind, singen die Menschen".
Luigi Nono/Massimo Cacciari

 

Im Oktober 1981 bat mich die Leitung des Festivals "Warschauer Herbst" für das folgende Jahr einen zweiten "Diario polacco" zu komponieren. Dann kam der 13. Dezember. Von den Freunden, die mich gebeten hatten, erhielt ich keine Nachricht mehr. Die Leitung wurde aufgelöst, das Festival konnte sich nicht halten. Umso mehr wollte ich diesen "Diario", dieses "Tagebuch", schreiben. Ich widme es den polnischen Freunden und Genossen, die im Exil, im Untergrund, im Gefängnis, in der Arbeit widerstehen - hoffen, auch wenn verzweifelt - glauben, auch wenn nicht gläubig.
Luigi Nono


1) Anspielung auf Alexander Bloks Dichtung "Die Zwölf"

>>Ouando stanno morendo … <<
Die Texte

I.

Meine treue Sprache,
ich habe dir gedient.
Nacht für Nacht lieh ich dir meine Farben,
damit du einen Ort hättest
im Gedächtnis.
Du warst mir mein einziges Vaterland,
weil ich das andere verlor,
weil seine Städte leer sind,
weil die Distel seine Fluren bedeckt ...
(Czeslaw Milosz)
Hier sind die Tränen salziger
und mannigfaltig auch die Leiden.
Tausend Erlöser
sind unsere Erlöser.
Und wenn sie tausendmal sterben:
es erlöst nicht, das Kreuz,
denn sie haben nichts vermocht,
oh, sie haben nichts vermocht ...
(Endre Ady)
Und wieder und wieder hat der Schnee
alle Spuren ausgelöscht ...
Und fern fern fern auf den Feldern
feiert der Tod sein Fest,
spiegelt sich in den Sternen,
ohne unterzugehen ...
(Alexander Blok)

II

Moskau - wer bist du?
Moskau - altersgrauer Schädel,
mit einem Rasiermesser aus Stein
möchte ich diese Mauern spalten,
in denen, Herbstgebeten gleich,
die Kinder hüpfen vor dem Tod ...
Moskau - wer bist du?
Ich weiß, ihr seid
strenggläubige Wölfe,
aber warum, warum hört ihr nicht knistern
die Nadel des Schicksals,
dieser wundersamen Näherin?
Weh über euch,
die ihr gewendet habt
die Herzen fälschlich gegen mich:
ihr werdet zerschellen in den Klippen,
und die Klippen werden euer lachen,
wie ihr gehöhnt habt
über mich.
(Welemir Chlebnikow)

III

Aber
über ein kleines
werden wir ins Licht sehen.
An diesem oder jenem Tag
wird uns die Sonne des Untergangs
zum Fenster rufen.
Wir werden durch Zufall
ungewohnte Dämmerung auslösen,
werden zusammenzucken
beim Anblick der Kamine,
werden das Haus erleuchten am hellen Tag,
als wär's für den Verlorenen Sohn ...
(Boris Pasternak)

Schicke hinaus deine zweite Seele
hinter die Berge, hinter die Zeit.
Sag mir, was du gesehen hast.
Ich werde warten ...
(Czeslaw Milosz)

Wenn sie am Sterben sind - schnauben die Pferde,
wenn sie am Sterben sind - welken die Gräser,
wenn sie am Sterben sind - erlöschen die Sonnen,
WENN SIE AM STERBEN SIND - SINGEN DIE MENSCHEN ...
(Welemir Chlebnikow)

Deutsche Übertragung: Josef Häusler
Als Basis diente die von Massimo Cacciari besorgte Zusammenstellung in italienischer Sprache, die Luigi Nono seiner Komposition zugrunde gelegt hat. Für die Übersetzung der Fragmente von Czeslaw Milosz wurde teilweise die in der Edition Suhrkamp unter dem Titel »Zeichen im Dunkel« von Karl Dedecius herausgegebene Milosz-Anthologie benutzt.


»Doch uns ist gegeben, auf keiner Stätte zu ruhn«
Luigi Nonos »Neuer Weg«

der Rest dieses Aufsatzes wird hier nicht veröffentlicht; siehe Programmheft der "Donaueschinger Musiktage '82"


Werkliste Luigi Nono:

VARIAZIONI CANONICHE SULLA SERIE DELL OP. 41 DI ARNOLD SCHÖNBERG für Orchester (1950)
POLIFONICA- MONODIA -RITMICA für Kammerensemble (1951)
COMPOSIZIONE PER ORCHESTRA NR. 1 (1951)
EPITAPH AUF FEDERICO GARCIA LORCA: I. ESPANA EN EL CORAZÓN für Sopran- und Bariton-Solo, gemischten Chor und Instrumente nach Texten von F. Garcia Lorca und Pablo Neruda (1952); II. Y SU SANGRE VA VIENE CANTANDO für Flöte und kleines Orchester (1952); III. MEMENTO. ROMANCE DE LA GUARDIA CIVIL ESPAGNOLA für Sprecherin, Sprechchor, gemischten Chor und Orchester nach einem Text von F. Garcia Lorca (1952/53)
DUE ESPRESSIONI PER ORCHESTRA (1953, DONAUESCHINGEN 1953)
DER ROTE MANTEL, Ballett nach »In seinem Garten liebt Don Perlimplin Donna Belisa« von F. Garcia Lorca (1953)
LA VICTOIRE OE GUERNICA, Gesänge nach Texten von Paul Eluard für gemischten Chor und Orchester (1954)
LIEBESLIED nach einem eigenen Text für gemischten Chor, Harfe und Schlagzeug (1954)
CANTI  PER 13 für Kammerensemble (1955)
INCONTRI für 24 Instrumente (1955)
IL CANTO SOSPESO nach Texten aus Abschiedsbriefen zum Tode verurteilter europäischer Widerstandskämpfer für Sopran-, Alt- und Tenor-Solo, gemischten Chor und Orchester (1955/56)
VARIANTI, Musica per violino solo, archi e legni (1957, DONAUESCHINGEN 1957)
LA TERRA E LA COMPAGNA, Canti di Cesare Pavese für Sopran und Tenor-Solo, gemischten Chor und Orchester (1957)
CORI DI DIDONE nach einem Text von Giuseppe Ungaretti für gemischten Chor und Schlagzeug (1958)
COMPOSIZIONE PER ORCHESTRA NR. 2: DIARIO POLACCO '58 (1958/59)
SARA DOLCE TACERE für acht Solostimmen nach einem Text von Cesare Pavese (1960)
»HA VENIDO«, CANClONES PARA SILVIA für Solosopran und sechs Chorsoprane nach einem Text von Antonio Machado (1960)
OMAGGIO A EMILIO VEDOVA für Tonband (1960)
INTOLLERANZA 1960, Azione scenica nach Texten von Angelo Maria Ripellino (1960/61)
CANTI DI VITA E D'AMORE: SUL PONTE DI HIROSHIMA nach Texten von Günther Anders, Jesus Lopez Pacheco und Cesare Pavese für Sopran- und Tenor-Solo und Orchester (1962)
CANCIONES A GUIOMAR nach einem Text von Antonio Machado für Sopran-Solo, sechsstimmigen Frauenchor und Instrumente (1962/63)
LA FABBRICA ILLUMINATA nach dokumentarischen Texten, zusammengestellt von Giuliano Scabia, für Mezzosopran und Tonband (1964)
MUSIK ZU »DIE ERMITTLUNG« VON PETER WEISS für Tonband (1965)
A FLORESTA E JOVEM E CHEJA DE VIDA auf dokumentarische Texte, zusammengestellt von Giovanni Pirelli, für drei Stimmen, Sopran, Klarinette, Kupferplatten und Tonband (1966)
PER BASTIANA - TAI-YANG CHENG für Orchester und Tonband (1967)
CONTRAPPUNTO DIALETTICO ALLA MENTE nach Texten von Celia Sánchez, Nanni Balestrini und dokumentarischen Texten für Tonband (1968)
MUSICAMANIFESTO NR. 1: UN VOLTO DEL MARE nach einem Text von Cesare Pavese für Stimmen und Tonband;
NON CONSUMIAMO MARX auf dokumentarische Texte vom Pariser Mai 1968 für Stimmen und Tonband (1968/69)
MUSICA PER MANZU für Tonband (1969)
Y ENTONCES COMPRENDIO nach Texten von Carlos Franqui und Ernesto Che Guevara für sechs Frauenstimmen, gemischten Chor, Tonband, Frequenzumsetzer, Filter und Ringmodulator (1969/70)
EIN GESPENST GEHT UM IN DER WELT nach Texten von Karl Marx, Celia Sánchez und Haydée Santamaria für Solosopran, gemischten Chor und Orchester (1971)
COMO UNA OLA DE FUERZA Y LUZ nach einem Text von Julio Huasi für Sopran, Klavier, Orchester und Tonband (1971/72)
SIAMO LA GIOVENTU DEL VIETNAM nach dem Text der Unabhängigkeitserklärung der Demokratischen Republik Vietnam und einem Text von G. Federici (1973)
AL GRAN SOLE CARICO D'AMORE, Azione scenica nach Texten von Bert Brecht, Tanja Bunke, Fidel Castro, Ernesto Che Guevara, Georgi Dimitrov, Maxim Gorki, Antonie Gramsci, Wladimir I. Lenin, Karl Marx, Louise Michel, Cesare Pavese, Arthur Rimbaud, Celia Sánchez, Haydée Santamaria und Volkstexten, zusammengestellt von Luigi Nono und Juri Ljubimov (1972/74)
FÜR PAUL DESSAU für Tonband (1974)
... SOFFERTE ONDE SERENE ... für Klavier und Tonband (1976)
CON LUIGI DALLAPICCOLA für sechs Schlagzeuger, drei Ringmodulatoren und drei Frequenzgeneratoren (1979)
FRAGMENTE - STILLE. AN DIOTIMA für Streichquartett (1979/80)
DAS ATMENDE KLARSEIN nach altgriechischen Texten und Fragmenten der »Duineser Elegien« von Rainer Maria Rilke, zusammengestellt von Massimo Cacciari, für Bassflöte, achtstimmigen Solochor und Live-Elektronik (1980/81)
IO, FRAMMENTO DAL PROMETEO, Textzusammenstellung Massimo Cacciari, für drei Soprane, Kammerchor, Bassflöte, Kontrabassklarinette und Live-Elektronik (1980/81)
QUANDO STANNO MORENDO ... , DIARIO POLACCO NR. 2 für vier Frauenstimmen, Bassflöte, Violoncelli und Live-Elektronik, TextzusammensteIlung: Massimo Cacciari (1982)


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